Nicht nur Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch nahezu alle Schüler nutzen Smartphones, Letztere mittlerweile oft schon als Kleinkinder, vor dem Grundschulalter. Mochten die digitalen Endgeräte während pandemiebedingter Schulschließungen auch unverzichtbar erscheinen, zeigen aktuelle Forschungsergebnisse doch große Risiken auf. So mahnte Professor Dr. phil. Klaus Ziegler, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, jüngst, sich besonders um die Handynutzung bei Schulkindern zu kümmern. Er warnte, dass eine intensive, unreflektierte Smartphone-Nutzung im außerschulischen Bereich zu massiven Lernrückständen führen könne, Rückständen von bis zu einem Jahr. Eine intensive Smartphone-Nutzung bei Kindern und Jugendlichen birgt zudem die Gefahr von Schlafstörungen und Cybermobbing, nicht nur aus Sicht von Professor Dr. Ziegler weitere Faktoren, die schulische Lernerfolge behindern.
Steigert weniger Bildschirmzeit das Wohlbefinden?
Aktuelle Studien belegen, dass sich die Bildschirmzeit altersgruppenübergreifend während der Pandemie durchschnittlich um 70 % gesteigert hat, bei Kindern und Jugendlichen hat sie sich je nach Land und dem damit verfügbaren Angebot an digitalen Endgeräten verdoppelt. Auch nach der Rückkehr in den Präsenzunterricht liegt die durchschnittliche tägliche Bildschirmzeit deutlich über dem Niveau vor März 2020. Auffallend ist, dass die tägliche Nutzungsdauer von Smartphones seit Jahren deutlich zunimmt, während die vor dem TV-Gerät verbrachte Zeit rückläufig ist. Diese Beobachtung lässt sich nicht allein mit den neuen Netflix-Serien erklären. Im Fokus der Wissenschaft steht deshalb nicht allein die Gesamtzeit, die wir vor einem Bildschirm verbringen, sondern auch die Häufigkeit, mit der wir uns unserem Smartphone zuwenden. Und uns von dem, was wir gerade tun, ablenken lassen.
Eine aktuelle Studie des Forschungs- und Behandlungszentrums für psychische Gesundheit (FBZ) an der Ruhr-Universität Bochum untersucht, ob unser Leben ohne Smartphone tatsächlich besser ist: Wie viel weniger Smartphone am Tag tut uns gut? Frau Professor Dr. phil. Julia Brailovskaia kommt mit ihren Kolleginnen und Kollegen zu dem Ergebnis, dass eine bewusste Verringerung der Smartphone-Nutzung positive Auswirkungen auf die körperliche und seelische Gesundheit hat. Bei den Studienteilnehmern seien die Lebenszufriedenheit und die Zeit körperlicher Aktivität gestiegen, Depressions- und Angstsymptome sowie der Nikotinkonsum zurückgegangen.
Die Bochumer Wissenschaftler verglichen, wie sich ein vollumfänglicher Verzicht auf die Smartphone-Nutzung gegenüber einer Reduktion der täglichen Bildschirmzeit und der unbeeinflussten Weiternutzung auswirkt. Sie gewannen 619 Teilnehmer für ihre Studie, die sie in drei Gruppen einteilten. 200 Personen legten ihr Smartphone für eine Woche komplett beiseite, 226 reduzierten in dieser Zeit lediglich die Nutzung ihrer Geräte um täglich eine Stunde. 193 Personen der Vergleichsgruppe änderten hingegen an ihrem bisherigen Nutzerverhalten nichts.
Unmittelbar nach Abschluss des Experiments, einen Monat und vier Monate später, befragten die Wissenschaftler die Teilnehmer mit Blick auf ihre Lebensgewohnheiten und ihr Befinden. Dabei zeigte sich, dass sowohl der komplette Verzicht auf das Smartphone als auch eine bereits einstündige Reduktion der täglichen Nutzung positive Effekte auf den Lebensstil und das Wohlbefinden der Teilnehmer hatten.
Kein Smartphone ist auch keine Lösung
Interessant: Ein vollkommener Verzicht auf Smartphones ist nach Frau Prof. Dr. Brailovskaia nicht die beste Lösung, um sich besser zu fühlen. Denn in der Gruppe derer, die lediglich die Smartphone-Nutzung reduziert haben, hielten sich die positiven Effekte sogar länger als in der Abstinenzgruppe. Bereits der einwöchige Versuch habe die Nutzungsgewohnheiten der Teilnehmenden nach Ansicht der Studienleiterin langfristig geändert: Noch vier Monate nach dem Ende des Experiments hätten die Mitglieder der Abstinenzgruppe ihr Smartphone durchschnittlich 38 Minuten pro Tag weniger genutzt als zuvor. Die Gruppe derer, die im Experiment täglich eine Stunde weniger mit dem Smartphone verbracht hatten, nutzten es nach vier Monaten sogar 45 Minuten weniger pro Tag als zuvor. Zugleich berichteten die Teilnehmer von höherer Lebenszufriedenheit, sie bewegten sich mehr, rauchten weniger und litten seltener unter Depressions- und Angstsymptomen. „Möglicherweise gibt es eine optimale tägliche Nutzungsdauer“, folgert Frau Prof. Dr. Brailovskaia: „Im Zeitalter der digitalen Revolution ist es für den Schutz der psychischen Gesundheit entscheidend, zu verstehen, wie man die Vorteile der Medienwelt nutzen und ihren Nebenwirkungen entgehen kann.“
Wie ich es sehe
Als Vater von zwei schulpflichtigen Kindern weiß ich, dass wir in unseren Aktivitäten ohne Smartphone oftmals eingeschränkt sind. Selbst alltägliche organisatorische Abläufe in Familie und Schule wären beschwerlich, und ganz ohne Smartphone fühlen sich gerade Kinder schnell als Außenseiter. Obschon als besondere erzieherische Maßnahme durchaus überlegenswert, ist uns allen klar, dass ein vollständiger Verzicht auf Smartphones nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Die Studie der RUB unterstreicht ja, dass eine verantwortungsvolle Nutzung auftretende „Kollateralschäden“ besser einzugrenzen vermag als ein reiner Verzicht.
Ein weiteres Phänomen einer zu intensiven Smartphone-Nutzung bei Kindern und Jugendlichen liegt in der augenblicklich eintretenden Langeweile, die viele überkommt, wenn sie auf ihr Gerät tatsächlich verzichten müssen. Dass an den Schulen ein Rückgang an Initiative beobachtet wird, Schülerinnen und Schüler oftmals zu schnell aufgeben, wenn sie nicht nach kurzer Zeit die Lösung für ihre Aufgaben gefunden haben, wenn selbst Dr. Google nicht Ad-hoc-Antworten liefert, ist besorgniserregend. Im prädigitalen Zeitalter hätten Schülerinnen und Schüler zum Buch gegriffen, sie hätten andere gefragt oder zur Not: einfach abgeschrieben. Die Fähigkeit zur selbstständigen Lösungssuche im Unterricht geht ebenso wie die Kunst einer die Entwicklung fördernden, außerschulischen Selbstbeschäftigung zunehmend an Smartphones verloren.
Mit der neuen Art der Kommunikation hat sich die Wahrnehmung des Umfelds verändert. Eine leistungsorientierte, spannende Realität wird ausgeblendet, eine neue, digitale Welt nimmt ihren Platz ein. Smartphones ermöglichen Schülern Treffen zum gemeinsamen Spielen im virtuellen Raum vor Unterrichtsbeginn, in den Pausen und auf dem Nachhauseweg. Dort angekommen, wird oftmals vor größeren Monitoren weitergespielt. In der Schule wie auch zu Hause: Aktiver Teil des eigenen Lebens, geschweige denn eines gemeinsamen Familienlebens sind viele Kinder und Jugendlichen schon lange nicht mehr. Und je früher sie von Erziehungsberechtigten mit Smartphones beschäftigt werden, je intensiver sie sich (außerschulisch) mit ihren Smartphones beschäftigen, desto mehr gehen Lernfähigkeit und Lernbereitschaft verloren. Es ist also sprichwörtlich höchste Zeit für Schule, den Kindern genau das zu vermitteln: die Vorteile der Medienwelt zu nutzen und gleichzeitig ihren Nebenwirkungen entgehen zu können.
Quelle
Julia Brailovskaia, Jasmin Delveaux, Julia John, Vanessa Wicker, Alina Noveski, Seokyoung Kim, Holger Schillack, Jürgen Margraf: Finding the „sweet spot” of smartphone use: Reduction or abstinence to increase well-being and healthy lifestyle?! An experimental intervention study, in: Journal of Experimental Psychology: Applied, 2022, DOI: 10.1037/xap0000430
mk