Es ist ein recht bekanntes Bild für die allermeisten Unterrichtenden: Montagmorgen, 7.40 Uhr, die erste Stunde beginnt und die Klasse ist schweigsam wie ein Grab. Mitarbeit und Motivation scheinen einen vorläufigen Tiefstpunkt erreicht zu haben. Viele Schüler scheinen in einer Art Stand-by-Modus zu verharren, manche legen unverhohlen den Kopf auf die verschränkten Arme und vergraben das Gesicht. Nur wenige bieten eine aktive Mitarbeit an, selbst wenn man es vermeidet, in der ersten Stunde rein frontale Phasen durchzuführen. Man selbst schwebt häufig zwischen dem wohligen Gefühl, das diese seltene Klassenzimmerruhe im wochenenderholten Lehrkörper auslöst, und einer gewissen Grundsorge, die daher rührt, dass kaum ein Schüler so richtig wach erscheinen will, was eine Progression im Stoff prekär anmuten lässt.
Am nächsten Tag wollen sich mehrere Schüler einfach nicht daran erinnern können, was denn tags zuvor besprochen, präsentiert oder als Hausaufgabe aufgegeben wurde. Sie scheinen es schlicht nicht mitbekommen zu haben. Und wieder ereilt uns Pädagogen ein unwohles Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt, dass doch eigentlich alle (körperlich) präsent waren, aber trotzdem von alle dem, was in der ersten Stunde tags zuvor vermittelt worden war, nichts oder nur noch Rudimente abrufbar sind.
DIe Präsenz der Mehrzahl der Schüler scheint tatsächlich eine rein körperliche gewesen zu sein. Der Verstand war offensichtlich nicht mit im Klassenraum, die meisten Kinder scheinen einer Art Dämmerzustand zum Opfer gefallen zu sein, der erst mit dem Klingeln zum Lehrerwechsel zwischen erster und zweiter Stunde verflog.
Sehr häufig und länderübergreifend kommen Pädagogen und Neurowissenschaftler daher zu dem Schluss, dass die meisten Schüler eben nicht zum „Lerchentyp“, also nicht zu denjenigen gehören, die gerne früh aufstehen und ihre produktivste Phase in den Morgen- und Vormittagsstunden haben, sondern vielleicht zum „Eulentyp“, der gerne abends und nachts aktiv ist, morgens aber seinen Schönheitsschlaf braucht – oder aber zum Taubentyp, der irgendwo dazwischen liegt.
Da stellt sich zwangsläufig die Frage nach einem Schulanfang zu späterer Stunde, wenn Kinder und Jugendliche sich mehrheitlich wacher fühlen. Warum also nicht die Schule erst um 9 Uhr beginnen lassen? So könnten die Schüler länger ausschlafen und wären im Unterricht wacher und somit aufnahmefähiger.
Doch zahlreiche Studien haben gezeigt, dass diese Herangehensweise zu kurz greifen würde, denn es gibt unter den Schülern nun einmal nicht nur Eulen, sondern auch unterschiedlich gelagerte Tauben oder frühaktive Lerchen. Letzere hätten von einem späteren Schulbeginn keinen Vorteil.
Somit war die Idee eines Gleitzeitmodells geboren, in dem in den ersten beiden Stunden des Schultages für alle, die früh produktiv sein können, die Schule ein Freiarbeitsmodell anbietet, das lang schlafende Eulen und Tauben in eigener Verantwortung am Nachmittag wahrnehmen können, während die ohnehin wachen Lerchen die Arbeit schon in aller Herrgottsfrühe erledigen. Dieses Modell wird unter anderem gerade in Dänemark erprobt. Dänische Forschende haben darüber erst kürzlich eine Studie veröffentlicht, nach der ein späterer Unterrichtsbeginn, der Schülern einen längeren Nachtschlaf bis in die frühen Morgenstunden ermöglicht, diesen erlaubt, um ein Vielfaches wacher und aufnahmefähiger im Unterricht zu sitzen. Ergebnisse eines späteren Unterrichtsbeginns sind somit auch eine gesteigerte Motivation und Mitarbeit und dadurch weniger Störverhalten, was den Unterricht für alle Beteiligten angenehmer und produktiver werden lässt.
Während die Vorteile dieses Modells klar auf der Hand liegen, muss man natürlich auch die Herausforderungen einer solchen Systemänderung erwähnen, denn Schulen und Elternhäuser werden damit vor nicht unbeträchtliche logistische und sonstige Probleme gestellt. Eltern jüngerer Schüler, speziell im Primarbereich, stünden vor einem Betreuungsproblem, denn sie müssten ihre Kinder später zur Schule bringen, damit diese in den Genuss längeren Ausschlafens kommen können. Ob es hier reicht, wenn eine schulische Frühbetreuung in Snoozle-Räumen die Kinder sanft in den Morgen begleitet, sie frühstücken lässt, um dann etwas später in den eigentlichen Unterricht zu starten, müsste noch ermittelt werden. Ältere Kinder könnten, sofern sie in städtischen Gebieten mit guter ÖPNV-Anbindung wohnen, spätere Busse und Bahnen in die Schule nehmen und vielleicht trüge das auch zu einer gesteigerten Selbstständigkeit bei. In eher ländlichen Gegenden hingegen würde man sehr wahrscheinlich auf ein größeres logistisches Problem stoßen. Hier wären dann die Schulträger gefragt, mit den Transportunternehmen entsprechende spätere Zusatzfahrten zu vereinbaren, die den Schülern einen späteren Schulweg ermöglichen würden. Zudem könnte es helfen, das Fahrradwegenetz besonders auch hinsichtlich des Sicherheitsaspektes signifikant auszubauen, damit Schüler auch dieses Transportmittel wiederentdecken. Letzteres wäre auch ein weiterer Schritt in Richtung Nachhaltigkeit.
Natürlich erfordern alle diese Maßnahmen Mehrausgaben in mindestens zweistelliger Millionenhöhe pro Jahr. Diese müssten von Land und Kommunen geschultert werden, was sich gerade in kleinen Gemeinden sowie in jetzt bereits überschuldeten Kommunen durchaus schwierig gestalten ließe. Wie so oft würde sich der Bund bei entsprechenden Begehrlichkeiten des Landes mit Verweis auf die vorhandenen Zuwendungen in vornehmer Zurückhaltung üben.
Zu guter Letzt stünden die Schulen vor der Aufgabe der Rhythmisierung und in diesem Zusammenhang der Neuverteilung der vorhandenen Deputatsstunden. Ein solches Gleitzeitmodell würde mit Blick auf die gleichwertige Betreuung aller Schüler, der Lerchen ebenso wie der Eulen und Tauben, erfordern, dass nicht nur die Lerchen die Möglichkeit haben, morgens mit Lehrerbegleitung ihre frei zu organisierende Arbeit zu verrichten, sondern auch, dass alle Schüler, die den Unterrichtstag später beginnen, in den Nachmittagsstunden betreut werden können. Des Weiteren wäre der Schülerrücktransport zu berücksichtigen, der ebenso versetzt stattfinden müsste wie der Transport in die Schule am Vormittag.
Somit bleibt vorerst festzuhalten, dass eine solche Umstellung für Schule, Eltern, Land und Kommunen eine sehr große und in Teilen kostspielige Aufgabe darstellen würde. Der pädagogische Nutzen und der Mehrwert für die Lernenden ist indes unbestreitbar vorhanden, weshalb ein wenig Mut zur Veränderung hier nicht fehl am Platz wäre. Es gilt eine alte, aber viel bewiesene Maxime: Es gibt nichts Gutes – außer man tut es.
Frank Handstein