Woran sich die Zukunft des Lernens ausrichten muss
Gerhard Brand vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) ist offen gegenüber KI-Technologie in der Schule, denn diese „soll ja auf das Leben vorbereiten und nicht das Leben und den technischen Fortschritt außen vor halten“. Allerdings sieht er eine ganze Reihe von rechtlichen und ganz praktischen Fragen.
KI-Anwendungen wie ChatGPT erobern die Kinder- und Klassenzimmer. Was sind aus Ihrer Sicht die größten damit verbundenen Chancen und Herausforderungen für die Schulen?
Wir sind offen gegenüber dieser neuen Technologie, denn Schule soll ja auf das Leben vorbereiten und nicht das Leben und den technischen Fortschritt außen vor halten. Wir brauchen aber kein neues Fach, sondern können das in vielen Fächern einsetzen. Aber: Die Revolution muss warten! ChatGPT kann in hervorragender Weise das, wofür ähnliche Programme seit Jahren genutzt werden: frei verfügbare Informationen zusammentragen. Durch die Arbeitsmethode des Chatbots, die am wahrscheinlichsten gemeinsam auftretenden Wörter zusammenzubringen, kann ein ganzer Text erstellt werden. Momentan wird das fertige Produkt aber oft noch daran erkannt, dass es nüchtern daherkommt. Außerdem ist es fehleranfällig, weil nicht das richtige Ergebnis zählt, sondern der wahrscheinlichste Zusammenhang.
Genau das zu nutzen ist aber in zweierlei Hinsicht eine Chance für den Unterricht. Zum einen kann das reine Faktenwissen überprüft werden. Schülerinnen und Schüler lernen, wie sie Quellen zu Informationen finden und nutzen können, indem sie Fakten prüfen und Fehler aufdecken. Das kann sogar zu einem Spiel gemacht werden, was noch zusätzlich motivieren kann. Zum anderen lernen sie, was künstliche Intelligenz momentan schon kann, aber auch, wo die Grenzen liegen. Das ist auch hilfreich dafür, eine eigene Lebensperspektive zu gestalten. So wird es zukünftig immer weniger nachgefragt sein, Fakten zu reproduzieren oder nach klaren Vorgaben gleiche Arbeitsschritte auszuführen. Das können Maschinen erledigen. Die Interpretation dessen oder die Organisation des Zwischenmenschlichen hingegen werden deutlich wichtiger werden. Die Zukunft des Lernens wird sich daran ausrichten müssen.
Nicht zuletzt wäre es aber eine sträfliche Verengung, wenn bei der Behandlung von ChatGPT nicht auch die Risiken, die damit und mit künstlicher Intelligenz allgemein einhergehen können, besprochen werden. Es ist ein Mittel zur Informationsgewinnung, wir müssen aber aufpassen. Die Informationen sind nicht faktengesichert und die Quellen können nicht nachverfolgt werden. Wie kann zum Beispiel ausgeschlossen werden, dass solche Bots politische Desinformationskampagnen unterstützen?
In der Debatte ist bereits vom „Tod der Hausaufgabe“ u. Ä. die Rede – wie muss sich insbesondere die Didaktik auf KI-Anwendungen einstellen?
Dieser Frage liegt ein Verständnis von Hausaufgaben zugrunde, das ich hinterfragen möchte. Es ist doch nicht die Regel, dass die Schülerinnen und Schüler lediglich Faktenwissen reproduzieren sollen.
Fokus von Arbeit, die außerhalb des Unterrichts erledigt werden soll, kann zum Beispiel eine andere Aufbereitungsform sein, die selbstständiges Denken und/oder Gestalten voraussetzt. Natürlich kann die KI den Text des Vortrages liefern. Wahrscheinlich sogar die Gliederung. Sie wird aber keine Frage beantworten können, das Präsentieren nicht übernehmen und die Diskussion nicht leiten.
Die Hausaufgabe als solche ist nicht erst seit dem Aufkommen des Internets steter Quell von Streitgesprächen. Wichtig ist doch, zu verstehen, wofür Hausaufgaben gut sein können. Der Mensch lernt durch Wiederholung. Beim Lösen von Hausaufgaben chemische Formeln anzuwenden, mathematische Lösungswege zu durchdringen oder zu verstehen, weshalb Fontane ein bestimmtes Reimschema nutzte, sind Vorgänge, bei denen ein Verstehensprozess ausgelöst werden soll. Wer sich das von einer KI abnehmen lässt, beraubt sich selbst dieser Möglichkeit. Das wiederum bietet spannende Ansatzpunkte für eine Diskussion über die Ethik des Einsatzes künstlicher Intelligenz. Was kann, was darf ich damit eigentlich machen? Die Europäische Union hat hierzu im Oktober 2022 eine Leitlinie zum ethischen Umgang mit künstlicher Intelligenz herausgegeben, die einen Blick wert ist.
Welche Chancen bieten moderne KI-Anwendungen auf der anderen Seite für die Lehrerschaft – etwa bei der Kontrolle von Arbeiten o. Ä.?
Bei sorgfältiger Nachkontrolle der aufbereiteten Fakten können solche Programme Lehrkräfte bei der Vorbereitung des Unterrichts, bei der individuellen Förderung oder auch bei der Kontrolle von digital vorliegenden Tests unterstützen. Der Möglichkeiten gibt es viele.
Die große Herausforderung ist, dass bisher noch kein Rechtsrahmen besteht. Darf ich denn einfach die Tests meiner Schülerinnen und Schüler hochladen? Wie viele Daten gebe ich preis, wenn ich mich dabei unterstützen lasse, individuelle Lernpläne zu generieren? Und: Darf ChatGPT in jedem Alter verwendet werden? Entfällt eine Restriktion einfach, weil ich als Aufsichtsperson dabei bin? Bin ich dafür in der Verantwortung, was meine Schülerinnen und Schüler zu sehen bekommen, wenn sie bestimmte Suchworte eingeben? Da gibt es eine hohe Unsicherheit. Hier darf die Politik die Lehrkräfte nicht alleinlassen.
Ich weiß, dass innerhalb der Kultusministerkonferenz (KMK) bereits eine Arbeitsgruppe dazu gegründet wurde, aber die Realität überholt die Theorie: In den
Klassenzimmern vor Ort wollen alle das gerne ausprobieren. In der vorigen Frage sprachen Sie selbst an, dass Hausaufgaben damit erledigt werden können. Ein öffentlich-rechtlicher Sender hat das Experiment gewagt, ChatGPT Abiturklausuren schreiben zu lassen. Auch wenn die Leistung nicht gut bewertet wurde, stellt sich trotzdem die Frage, wie damit umzugehen ist. Hier braucht es die kontinuierliche Begleitung durch die Kultusministerien und klare Vorgaben.
Nicht zu vergessen ist außerdem, dass von keiner Lehrkraft verlangt werden kann, sich in der Freizeit in den Umgang mit diesem oder ähnlichen Programmen einzuarbeiten. Wir müssen den Beschäftigten ihre eigene Geschwindigkeit lassen. Es ist eine schnelllebige Welt und wir erwarten von den Kultusministerien, dass sie dem Rechnung tragen. Es müssen schnellstmöglich, flächendeckend und im Rahmen des Deputats der Lehrkräfte Fortbildungen angeboten werden. Der besonderen Situation, die durch den Lehrkräftemangel entsteht, ist dabei Rechnung zu tragen.
Welchen rechtlichen Rahmen muss es mittelfristig für KI-Anwendungen in den Schulen geben?
Es ist zu klären, ob und unter welchen Umständen das Programm in der Schule eingesetzt werden darf. Die größte Herausforderung beim Einsatz von ChatGPT
sehen Menschen mit Rechtsexpertise darin, dass keine Quellen genannt werden. Gilt „ChatGPT“ demnach als Quellenangabe?
Auch die bereits angesprochenen Bedenken bezüglich Datenschutz müssen geklärt werden. Außerdem ist zu sichern, dass alle Schülerinnen und Schüler Zugang zu einem verwendeten Programm haben können. Dafür braucht es die entsprechende Infrastruktur, was vielerorts trotz des Ausstattungsschubs während der Coronapandemie noch immer noch gegeben ist.
Zur Person
VBE Bundesvorsitzender Gerhard Brand
Gerhard Brand (Jahrgang 1962) studierte an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg Lehramt für Grund- und Hauptschulen in den Fächern Erziehungswissenschaften, Mathematik und Sport.
Während seines Referendariats trat er in den VBE Baden-Württemberg ein. Er begann als Schriftführer, später wurde er Leiter des Referats Hauptschule und geschäftsführender Vorsitzender, seit Oktober 2010 ist er Landesvorsitzender des VBE Baden-Württemberg.
Gerhard Brand ist ständiges Mitglied im Hauptpersonalrat für Grund-, Haupt-, Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen und Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren am Kultusministerium.
Von 2010 bis 2022 war Gerhard Brand Bundesschatzmeister des VBE-Bundesverbandes. Seit Dezember 2022 ist er Bundesvorsitzender.