Warum gegenseitige Wertschätzung den eingeforderten Respekt ablösen sollte
In pädagogischen Kontexten ist „Respekt“ ein fest verankerter Begriff. Formulierungen wie „zeigt respektvolles Verhalten“ oder „verhält sich respektlos gegenüber Lehrkräften“ sind allgegenwärtig. Doch hinter dieser Routine verbirgt sich ein Konzept, das einer kritischen Überprüfung bedarf. Was verstehen wir eigentlich unter Respekt – und ist er das geeignete Fundament für gelingende pädagogische Beziehungen?
Teil 1
Die Einseitigkeit des Respekts
Der Begriff trägt eine Hierarchie in sich: Das lateinische „respicere“ bedeutet „zurückblicken“ oder „beachten“ und verweist auf eine distanzierte Haltung. Im Französischen heißt „respect“ Hochachtung, ebenfalls mit Überordnung verbunden. Respekt hat somit oft etwas mit Demut zu tun.
In Schulen wird Respekt oft eingefordert, statt auf Vertrauen zu setzen. Wenn Lehrkräfte sagen: „Ich verlange Respekt“, bleibt unklar, worauf sich diese Forderung stützt – auf Amt, Alter oder Funktion. Manchmal verbirgt sich hinter der Forderung auch eine versteckte Drohung.
Respekt kann also auch aus Angst entstehen. Doch Angst ist keine tragfähige Basis für Bildungsprozesse, die Entwicklung, Entfaltung und Selbstwirksamkeit fördern sollen.
Verdient man sich nicht lieber den Respekt, als ihn einzufordern?
Wertschätzung als tragfähige Alternative
Dem gegenüber steht der Begriff der Wertschätzung: eine dialogische Haltung der Anerkennung gegenüber dem anderen als gleichwertigem Menschen. Sie entsteht aus echtem Interesse, Aufmerksamkeit und Empathie, nicht aus Pflichtgefühl. Lehrkräfte, die ihren SchülerInnen mit Wertschätzung begegnen, schaffen eine Atmosphäre des Vertrauens. Sie ermöglichen Fehler, fördern Ehrlichkeit und Raum für Entwicklung. Wertschätzung ist der Boden für stabile Beziehungen, auch in Konfliktsituationen.
LehrerInnen erleben ihre SchülerInnen in ihrer Gesamtheit – mit all ihren Geschichten, Bedürfnissen und Benachteiligungen.
Perspektivwechsel wagen
Meiner Meinung nach tun sich viele Lehrkräfte schwer damit, die Perspektive der Kinder und Jugendlichen einzunehmen. Nicht aus mangelnder Empathie, sondern weil das Schulsystem Kontrolle über Beziehung stellt. Nach dem Berufseinstieg werden viele zu Autoritätspersonen mit der unausgesprochenen Erwartung, Respekt zu fordern.
Wahrhafte Autorität entsteht jedoch durch Authentizität und Zuverlässigkeit. Schüler und Schülerinnen spüren, wenn Haltung und Verhalten nicht übereinstimmen. Unaufrichtigkeit führt zu Rückzug, Ablehnung oder Provokation.
Fehler als Teil aufrichtiger Beziehung
Es braucht Mut, Schwäche zu zeigen. Kinder und Jugendliche schätzen Ehrlichkeit und verzeihen Fehler, wenn sie offen zugegeben werden. Wenn eine Lehrkraft sich für eine unbedachte Äußerung entschuldigt, schafft das eine tiefere Verbindung als jede autoritäre Maßnahme. Fehler zeigen Menschlichkeit – und Menschlichkeit ist die Basis für echte pädagogische Beziehungen.
Sie signalisiert: Du darfst Fehler machen. Und: Ich auch.
Teil 2
Wertschätzung und Demokratieerziehung Wertschätzung ist demokratische Praxis
Wenn wir Schule als Lebensraum begreifen – nicht nur als Lernort – müssen wir unser pädagogisches Handeln auf Beziehung aufbauen. Respekt allein ist dafür nicht ausreichend. Er wirkt oft distanziert, kontrollierend oder sogar kalt. Wertschätzung hingegen ist warm, nahbar und ehrlich.
Deshalb sollten wir unser pädagogisches Vokabular überdenken: nicht um Begriffe zu streichen, sondern um neue Perspektiven zu eröffnen. Respekt kann Teil von Beziehungen sein, darf aber nicht das Ziel sein. Ziel ist vielmehr, Kinder in ihrer ganzen Persönlichkeit wahrzunehmen, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Das gelingt nur mit echter, gelebter Wertschätzung.
Vom autoritären Erbe zur demokratischen Kultur
Das Konzept des Respekts ist ein Relikt autoritärer Schultraditionen. Es basiert auf Gehorsam, Anpassung und Hierarchien. Eine demokratische Gesellschaft hingegen fordert kritisches Denken, Urteilskraft und Dialogfähigkeit.
Wertschätzung fördert diese Kompetenzen, stärkt Selbstwirksamkeit, Urteilsvermögen und Empathie – die zentralen Pfeiler einer demokratischen Kultur. SchülerInnen, die sich wertgeschätzt fühlen, entwickeln eher den Mut, ihre Meinung zu äußern, Verantwortung zu übernehmen und Vielfalt zuzulassen. Wo Wertschätzung wächst, entsteht Respekt ganz natürlich – nicht als Forderung, sondern als gegenseitige Achtung.
Respekt als autoritäres Erbe – und warum er nicht reicht
In Schulen wird Respekt oft mit Machtasymmetrien verbunden: LehrerInnen erwarten Respekt als Ausdruck von Disziplin, Gehorsam oder Anerkennung ihrer Autorität. Dieser eingeforderte Respekt ist häufig leer, ritualisiert oder durch Angst motiviert. In autoritären Systemen ist das die Grundlage der Macht: Gehorsam wird nicht hinterfragt, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. In einer demokratischen Gesellschaft hingegen geht es um Einsicht, Urteilskraft und Kritikfähigkeit. Wer Kinder aus Angst gehorchen lässt, erzieht sie nicht zur Mündigkeit, sondern zur Abhängigkeit. Der Fokus auf Gehorsam fördert Schweigen, Anpassung und Nicht-Auffallen – das Gegenteil von demokratischer Beteiligung, Widerspruch und Vielfalt.
Schule als Ort demokratischer Beziehung
Wertschätzung ist keine Methode, sondern eine Haltung: Sie macht Kinder stark, fordert keinen blinden Gehorsam, sondern schenkt Vertrauen. Diese Haltung befähigt, in einer freien Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Die Schule der Zukunft braucht weniger Kontrolle, mehr Beziehung, mehr Dialog und vor allem mehr Wertschätzung. Wo sie wächst, entsteht Respekt – freiwillig, ehrlich und menschlich.
Diese demokratischen Grundhaltungen entstehen nicht allein im Politikunterricht. Sie müssen im Alltag spürbar sein – im Gesprächston im Klassenzimmer, im Streit auf dem Pausenhof, im Umgang mit Regeln und Konsequenzen. Auch im Kollegium untereinander. Nur wenn Schüler und Schülerinnen ihre Schule als einen Ort erleben, an dem sie ernst genommen werden, kann ein echtes demokratisches Bewusstsein wachsen.
Fazit: Schule als Ort gelebter Demokratie
Wenn Schule mehr sein will als eine bloße Lernanstalt, wenn sie Kinder und Jugendliche wirklich im Leben begleiten und bei der Erziehung zum mündigen Bürger unterstützen will, dann lohnt es sich, sie selbst zu einem demokratischen Raum mit lebendigem Reglement zu gestalten – in Haltung, Alltag und Sprache. Dafür braucht es Mut: den Mut, autoritäre Denkweisen hinter sich zu lassen und den pädagogischen Blick zu weiten.
Grischa Greuel
Dieser Artikel wurde ursprünglich als Impuls zur Reflexion aktueller schulischer Haltungen verfasst. Er darf zur Diskussion anregen – innerhalb von Kollegien, in Fortbildungen und im schulischen Alltag.