Von der Klappe
Immer mehr Mädchen erleben die Wirklichkeit als bedrohlich und überfordernd. Haben wir eine Welt geschaffen, die für einen Teil unserer Kinder nicht mehr attraktiv ist? Sind wir die falschen Vorbilder? Haben wir keine lebenswerten Perspektiven geschaffen? Es sieht so aus, als wäre die Situation für Mädchen schwieriger als für Jungen. Der renommierte Kinderpsychiater Michael Schulte-Markwort identifiziert zahlreiche Gründe, warum gerade Mädchen, die er betreut, diese Neugier abhandengekommen ist. Seine Erkenntnisse illustriert er anhand von Fallbeispielen. Er richtet den Blick nach vorn und zeigt Lösungsansätze, die Eltern und Töchtern helfen, Mut zu schöpfen und neue Wege einzuschlagen.
In die Welt zu gehen und in ihr zu bestehen, erfordert Mut. Einen Mut, der Neues spannend finden lässt, der Kinder in die Welt trägt und Angst durch bereichernde Aufklärung ersetzt. Mut ist notwendig. Mut ist Abenteuer. Doch was passiert, wenn bei einem jungen Menschen der Mut fehlt? Immer häufiger sieht sich der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort mit diesem vor allem Mädchen betreffenden Phänomen konfrontiert. Mangelnde Neugier auf das Leben entwickelt sich bei den Heranwachsenden schleichend. Sie ziehen sich zurück, liegen tagelang im Bett und tauchen in die digitalen Medien ab. Ziele erscheinen unerreichbar oder sind gar nicht erst erstrebenswert. Meistens können weder Traumatisierungen noch eine Depression nachgewiesen werden, und trotzdem leiden die betroffenen Mädchen und wünschen sich Veränderung, ohne zu wissen, wie sie gelingen könnte. Schulte-Markwort geht diesem neuen Phänomen nach, gibt mögliche Erklärungen und weist damit auf eine Schieflage hin, die in der Öffentlichkeit bislang noch zu wenig Beachtung findet.
Leseprobe
Lisa ist 16 Jahre alt. Ohne Mimik und ohne Blickkontakt sitzt sie vor mir. Die klassische Symptomatik eines depressiven Mädchens, denke ich. Dann entstehen zwei Bilder von Luisa. Die eine Luisa ist herabgestimmt und verzweifelt, die andere Luisa spricht über ihre Freundinnen und ihre Interessen, als sei nichts geschehen. Immer wenn das Thema auf die Schule zu sprechen kommt, fällt Luisa in sich zusammen. Nein, es sei nichts Besonderes passiert. Sie sei immer eine mittelmäßige Schülerin gewesen, mochte ihre Klasse und auch ihre Lehrer. Seit den Osterferien – es ist jetzt September – geht Luisa nicht mehr in die Schule. Und nein, sie kann es auch nicht erklären. Anfangs habe sie es versucht, aber schnell habe sich die Schule, allein schon das Gebäude, als ein Ort der Unmöglichkeiten herausgestellt.
Luisas Eltern betonen glaubhaft, dass sie keine erfolgreiche Abiturientin aus ihrer Tochter machen wollten. Den Satz, Hauptsache, sie wird glücklich, glaubt man ihnen … „Was um alles in der Welt … haben sie hier falsch gemacht? … Nachdem sich an der Symptomatik von Luisa auch nach einer stationären Behandlung nicht wirklich viel verändert hat, nähert sich der innere Zustand der Mutter dem ihrer Tochter …“
Fallbeispiele – wie geht es weiter?
Zahlreiche Fälle aus der Praxis werden exemplarisch beleuchtet: Was ist nach Monaten, nach Jahren aus den einzelnen Mädchen geworden, welchen Lebensweg haben sie durchlaufen, wie haben die Eltern diese Lebensphase erlebt? War die therapeutische Begleitung erfolgreich? Eine einfache, klare Antwort kann es an dieser Stelle natürlich nicht geben. Die Lebenssituation der Mädchen ist zu individuell und zu vielseitig für ein generalisiertes Ergebnis. Es zeigte sich aber auch, wie unvorhersehbar sich der jeweilige Behandlungserfolg der Mädchen entwickelte und somit oft zu überraschenden Therapieergebnissen führte.
Fazit: Ein wichtiges Buch, dessen Autor auch in schwierigen Situationen nicht pauschal von kranken Patientinnen spricht, sondern von Mädchen, die in ihrer Seele verletzt wurden. Ein Buch, das allen Beteiligten Mut macht, therapeutische Bemühungen zu unterstützen, auch wenn die Ergebnisse oft im „mikroskopischen“ Bereich liegen. Das Buch liest sich trotz des ernsthaften, medizinischen Hintergrundes leicht und bleibt durch seine zahlreichen Fallbeispiele spannend und verständlich.
„Deutsche Pädagogik ist von Grund auf misstrauisch und defizitorientiert. Benotet wird nicht, was eine Schülerin oder ein Schüler geschafft hat. Markiert werden die Lücken und das Nichtwissen: in Rot. Die Mitteilung lautet: Du hast zwanzig von fünfzig Wörtern falsch geschrieben. Nicht: Du hast dreißig Wörter richtig geschrieben. Das Buch endet nicht zuletzt mit 90 Sätzen für die Eltern. Genannt sei hier stellvertretend
Nr. 66: Ein liebevoller Blick ist wie ein Weg, auf dem die Kinder in die Welt gehen können. Ein Buch, das nicht nur Mädchen Mut machen kann. Auch Eltern und Lehrkräften.
kfs