Rheinland-Pfälzische Schule

Mund zu, Ohren auf!

Der Schweigefuchs wird zur bedrohten Tierart in deutschen Klassenzimmern – vom Sinn und Unsinn eines fragwürdigen Verbots

Millionen von Grundschülern kennen ihn und erleben ihn als ehernes Gesetz im Unterricht, und auch in den unteren Klassen der weiterführenden Schulen findet er durchaus noch Verwendung: der Schweigefuchs. Auf dem Daumen ruhende Mittel- und Ringfinger symbolisieren einen geschlossenen Mund, die abgespreizten Zeige- und kleinen Finger die aufmerksam gespitzten Ohren. Wenn der Schweigefuchs im Klassenzimmer erwacht, wird es leise und die Kinder schauen aufmerksam abwartend ihre Lehrperson an. So ist es in zahlreichen Kitas und Grundschulen in Deutschland eingeführt und ritualisiert. Die Bedeutung ist den Kindern im Kontext des Klassenzimmers klar.

Szenenwechsel: Es ist der 2. Juli dieses Jahres, die Türkei spielt im Achtelfinale der Fußballeuropameisterschaft in Deutschland gegen Österreich. Doch mehr Aufsehen als der Endstand – die Türkei schlägt Österreich mit 2 zu 1 – erregt eine Jubelgeste des türkischen Nationalspielers Merih Demiral. Er reckt beide Arme vor den jubelnden türkischen Fans in die Höhe und zeigt ihnen … den Leisefuchs? Natürlich nicht. Es ist die gleiche Geste, die wir aus dem Unterricht kennen, nur mit einem völlig anderen und durchaus nicht unproblematischen Hintergrund, denn in Demirals Geste erkennen die türkischen Fans den sogenannten „Wolfsgruß“, ein Erkennungszeichen der rechtsextremen und ultranationalistischen Ülkücü-Bewegung, hierzulande besser bekannt als „Graue Wölfe“, die sich laut dem nordrhein-westfälischen Innenministerium als Träger der „türkisch-islamischen Synthese“ verstehen. Kurden, Armenier und Juden werden von den „Grauen Wölfen“ angefeindet. Die in Deutschland 12.000 Mitglieder zählende Organisation ist eng mit der Partei Erdoğans verbunden und wird durch den Verfassungsschutz beobachtet.

Na und? Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Darüber gibt es widerstrebende Meinungen in Deutschlands Kultus- und Bildungsministerien. Am „konsequentesten“ positioniert sich die Bremer Bildungssenatorin. Bremen verbietet die Verwendung des Schweigefuchses im Unterricht, da die Geste nicht mehr zeitgemäß sei und mit dem extremistischen Wolfsgruß verwechselt werden könne. In Baden-Württemberg sieht man es ähnlich. Hier erging aber nur eine Empfehlung an die Lehrkräfte, den Schweigefuchs nicht mehr einzusetzen. Andere Bundesländer wie Hessen, Thüringen, Sachsen und Bayern halten ein Verbot der Geste für überzogen und vertrauen auf die kulturellen und pädagogischen Kompetenzen ihrer Lehrkräfte, die selbst über den Einsatz solcher das soziale Miteinander fördernden Handzeichen entscheiden sollen. 

Auch in Rheinland-Pfalz ist die Geste kein Thema für das Bildungsministerium. Es seien bisher keine Probleme damit in der Praxis bekannt, negative Intentionen seien darin nicht erkennbar.

Rechtlich gesehen ist es zumindest problematisch, den Leisefuchs aus den Klassenzimmern zu verbannen, denn das Zeigen des optisch verwandten Wolfsgrußes ist keine strafbare Handlung wie es etwa das Zeigen des Hitlergrußes ist, da die „Grauen Wölfe“, auch wenn sie in Deutschland schon seit längerer Zeit durch den Verfassungsschutz beobachtet werden, keine verbotene Organisation sind. Somit entbehrt ein Verbot der Schweigegeste einer juristisch nachvollziehbaren Grundlage. Zudem verwenden Lehrkräfte die Geste in einem sowohl kulturell als auch funktional gänzlich anderen Zusammenhang. Im schulischen Kontext verwendet bedeutet sie den Kindern eine Aufforderung zur Ruhe und zum aktiven Zuhören. Somit besteht auf der semiologischen Ebene kontextbezogen sicherlich keinerlei Verwechslungsgefahr.

Wenn Bremen nun auf seinem Verbot besteht, so stellt sich demnach in der Tat die Frage der Konsequenz für eine Lehrkraft, die die entsprechende Anweisung ihres Dienstherrn entweder vorsätzlich missachtet oder aber fahrlässig verletzt, denn diesem Verbot zuwiderzuhandeln müsste eine entsprechende Sanktion nach sich ziehen. Die fehlende Strafbarkeit sowie die im Kontext Schule eindeutige Intention der Lehrkraft jedoch stellen die Rechtskraft jeglicher Sanktion durch den Dienstherrn gegen sich im Sinne dieses Verbots falsch verhaltende Lehrkräfte infrage. Solche Disziplinarmaßnahmen wären demnach juristisch angreifbar. Mit größter Wahrscheinlichkeit hätte eine Lehrkraft, die sich juristisch gegen disziplinarrechtliche Maßnahmen ihres Dienstherrn aufgrund der Verwendung des Schweigefuchses zur Wehr setzte, gute Ausssichten auf Erfolg. Dann wäre das Verbot freilich eine Farce.

Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht ratsam, solche Verbote auszusprechen, zumal sie kostspielige und für den Dienstherrn bei einem absehbar großen Medieninteresse peinliche Gerichtsverfahren nach sich ziehen könnten.

Des Weiteren erscheint das Verbot reflexartig und wenig durchdacht. Bei Licht besehen gestattet die Freie Hansestadt Bremen hier mehr oder weniger einer ausländischen und unserer Kultur gänzlich unverwandten rechtsextremen Bewegung, ihre pädagogischen Entscheidungen zu beeinflussen – und das ohne eigentlichen Regelungsbedarf, also lediglich aufgrund der zu Recht konjunktivisch zu formulierenden Befürchtung, einzelne Eltern könnten sich über die Verwendung der in Rede stehenden Geste beschweren. Warum, möchte man fragen, hatte sich bisher niemand darüber Gedanken gemacht oder sich gar echauffiert? Schließlich stehen die Grauen Wölfe und ihr Gruß nicht erst seit dem 2. Juli in der Aufmerksamkeit der Medien. Auch deutlich bevor es einem offensichtlich politisch-ideologisch fehlgezündeten türkischen Nationalspieler einfiel, einer breiten Öffentlichkeit seine menschenverachtende Gesinnung bildlich vorzutragen, hatte es bereits Berichterstattung über Ülkücü, deren Anhängerschaft in Deutschland und das folgliche Interesse des Verfassungsschutzes gegeben. Dieser plötzliche norddeutsche Tatendrang trägt also in gewisser Weise den Odeur des Aktionismus.

Letztlich stellt dieses Verbot auch einen Eingriff in die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Lehre [Art. 5 (3) GG] dar. Da der Leisefuchs mit Sicherheit keine verfassungswidrige Geste ist, geschieht dieser Eingriff, wie bereits erwähnt, ohne Not. Man hätte also auch einfach den Kopf über die Unbesonnenheit des türkischen Heißsporns schütteln und mit seinem Tagwerk fortfahren können. In diesem Zusammenhang ist die nüchterne und gelassene Betrachtungsweise des rheinland-pfälzischen Bildungsministeriums sowie auch anderer Bundesländer sehr zu begrüßen, denn zu häufig neigt die Politik dazu, reparieren zu wollen, was nicht defekt ist, wie dies gerade in Bremen geschieht. Am Ende des Tages war hier keine Gefahr im Verzug, keine Pandemie zu bekämpfen und kein Verbrechen zu vereiteln. Es handelte sich lediglich um den Aussetzer eines tumben Jungen, dessen Expertise es ist, gegen einen Ball zu treten. Ganz offensichtlich wäre es da eher angezeigt gewesen, anderen Vorbildern zu folgen und einer sommerlich italienischen Tugend zu frönen: dolce far niente.

fh