Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall Rosenberg mit Jochen Hiester
Jochen Hiester ist ein hagerer, großer Mensch um die 50, der im Ruhezustand nahezu unscheinbar wirkt. Als ich in den Unterrichtssaal des Forums Vinzenz Pallotti in Vallendar trete, übersehe ich ihn fast, so sehr ruht er in sich. Als ich erwähne, dass ich den Referenten des heutigen Seminars sprechen muss, gibt er sich zu erkennen. Seine ruhige Ausstrahlung verleiht ihm dabei eine Aura von Zugewandtheit und Souveränität, ohne autoritär zu wirken. Er ist ein angenehmer Mensch.
So nehmen ihn auch die übrigen Seminarteilnehmer wahr. Die Stimmung im Saal ist also schnell locker und gelöst. Jochen stellt eine Atmosphäre her, in der man das Gefühl hat, sich einfach öffnen zu können. Wir adoptieren das Arbeits-Du, ohne es vorher vereinbart zu haben. Als eine Teilnehmerin nachfragt, ob wir einander denn universell duzen wollen, ist es tatsächlich bereits geschehen und Fremde kommen sich auf einmal nicht mehr fremd vor. Wir Seminarteilnehmer sind plötzlich eine Gemeinschaft und kennen doch noch nicht einmal die Namen der anderen. Das allein lässt schon aufhorchen. Wir ahnen: Langweilig wird es nicht werden.
Und es wird in der Tat eher bewegt. Jochen weist darauf hin, dass wir nicht sitzen müssen, aufstehen dürfen, uns an den Getränken bedienen möchten und auch gerne im Stehen mitarbeiten können. „Was euch entspannt, ist gut und förderlich, was euch einschränkt, behindert euer Lernen.” Wir bewegen uns durch den Raum, finden Gesprächspartner und tauschen uns aus, beispielsweise über unsere Stärken. Nur Stärken. Das Ansprechen von Schwächen ist in dieser Übung tabu.
Zudem nähern wir uns den Grundlagen der Kommunikationslehre Marshall Rosenbergs an. Es geht um Konfliktbewältigung durch gewaltfreie Kommunikation. Hierzu müssen sich die Beteiligten in ihr Gegenüber einfühlen und verstehen, was ihn oder sie bewegt, welche Bedürfnisse ihrem Handeln zugrunde liegen. Da wären wir auch schon bei einer Grundannahme Rosenbergs: Alles, was ein Mensch tut, dient nur der Befriedigung eines Bedürfnisses, das er verspürt. Diese Bedürfnisse hat jeder Mensch. Jeder Mensch strebt eigentlich danach, anderen das Leben zu verschönern – und wenn ein Mensch das gerade nicht tut, dann stehen ihm Bedürfnisse im Weg, die er in diesem Moment verspürt. Doch auch das ist nichts Verwerfliches. Das scheinbar Negative kann positiv gesehen werden, denn „ein Nein ist ein Ja zu etwas anderem“.
Aber was ist eigentlich ein Bedürfnis? Natürlich wissen wir das alle. Aber Marshall Rosenberg hat es in seinen Eigenschaften definiert. Ein Bedürfnis ist demnach universell (alle Menschen haben es), positiv (es macht das Leben schöner und reicher) und abstrakt (es ist weder an Personen noch bestimmte Handlungen gekoppelt).
Ein Beispiel: Das Bedürfnis nach Freiheit ist universell, denn alle Menschen wollen frei sein. Es ist gleichermaßen positiv, denn Freiheit ermöglicht uns, unser eigenes Leben so zu gestalten, wie wir es wünschen. Die Freiheit ist schließlich abstrakt, indem sie unabhängig von spezifischen Personen existiert und auf vielfältige Weise verwirklicht werden kann.
Was also Konflikten zugrunde liegt, sind Bedürfnisse, die per se nicht schlecht sein können. Nur die Art und Weise, auf die jemand nach der Befriedigung eines Bedürfnisses strebt, mag schlecht sein, nicht aber das Bedürfnis selbst.
Auf dieser Grundlage erforschen wir Konflikte, die nach Rosenberg entstehen, weil jede Partei 100 Prozent ihrer Forderungen erfüllt bekommen möchte, um ihr Bedürfnis (schnellstmöglich, so niederschwellig wie möglich) zu befriedigen. Überraschenderweise lehrte Rosenberg nicht, dass das Erreichen eines Kompromisses das Ziel sein sollte, sondern vielmehr das Optimum die Win-win-Lösung sei, bei der beide Seiten 100 Prozent ihrer Bedürfnisse erfüllen. Bei einem Kompromiss hingegen leiden beide Seiten, da beide Bedürfnisse aufgeben müssen.
Wir üben die bedürfnisbasierte Konfliktanalyse direkt anhand der „Schandtaten-Übung”, bei der ein (mutiges) Gruppenmitglied eine Schandtat aus der Jugend erzählt und alle anderen mutmaßen, welche Bedürfnisse die Person mit dieser Schandtat erfüllen wollte. Es geht darum, Verständnis für den Übeltäter aufzubringen, denn Verständnis ist der erste Schritt hin zu einer möglichen Lösung.
An diesem Tag werden wir nicht fertig. Zu den Lösungen zu kommen, dazu braucht man tatsächlich etwas mehr Zeit. So war dieses Seminar ein erstes Modul, das ein paar Einblicke in grundlegende Thesen der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg gab, die wir nun durchaus auch schon in unserem täglichen Leben anwenden können und die uns hoffentlich helfen werden, die Menschen, denen wir in Konflikten begegnen, besser zu verstehen und zu überzeugen, dass es eine Möglichkeit gibt, den jeweiligen Konflikt zu lösen. Wir haben also eher das Gefühl, am Anfang eines Lernprozesses zu stehen. Doch das ist ein gutes Gefühl, denn der Tag war für alle Teilnehmer auch ein erholsamer.
Daher werden wir auch noch weitere Seminare mit Jochen Hiester planen und anbieten, damit wir das eben Erlernte vertiefen und zur Anwendungsreife bringen können – und ich werde dabei sein. Ich freue mich darauf – und darauf, die gestrigen Teilnehmer hoffentlich in weiteren Modulen wiederzusehen.
fh