Mit großer Mehrheit wurde auf der Landesdelegiertenversammlung am 23. September dieses Jahres der Leitantrag des Referats Sekundarstufe I von den Delegierten beschlossen – ein Zeichen, dass der VBE erkennt, dass das hergebrachte Beschulungssystem weder adäquate Antworten auf die Herausforderungen des Unterrichtens in der Sekundarstufe I des 21. Jahrhunderts liefern noch die Bedürfnisse der Schülerschaft in einer modernen Gesellschaft bedienen kann. Wie eh und je stehen derzeit häufig bis immer noch Lehrkräfte im Einzelkämpfermodus vor Klassen, die Stärken von bis zu 32 Schülern haben. Einmal davon abgesehen, dass dieses System noch aus Kaisers Zeiten stammt und eine Gelingensbedingung innerhalb des Systems eine eiserne Disziplin der Schülerschaft war, haben Kinder schon immer in Zusammenhängen, in Kontexten und durch das Vernetzen von Wissen gelernt. Erst die Schule hat die Wissensvermittlung in einem Kanon
in der
voneinander isolierter Fächer gefasst und die Interdisziplinarität weitgehend aus den Lernprozessen verbannt. Das mag im wilhelminischen Schulsystem, in dem man den Schüler eher als im Sinne des Systems zu formenden Untertanen begriffen hat, durchaus Sinn ergeben haben, auch weil das zahlenmäßige LehrerSchüler-Verhältnis bei Gruppenstärken von bis zu 60 Schülern damals noch ein gänzlich anderes war.
Heute jedoch sind die Bedingungen gänzlich andere. Zwar sind die Gruppen, die wir aktuell unterrichten, sehr viel kleiner als damals. Allerdings sind fehlende Selbstdisziplin und mangelnde Sozialisierung unzweifelhaft immer häufiger auftretende Phänomene, die das Unterrichten nach dem wilhelminischen Muster, das letztlich nur Modifizierungen erfahren hat, immer schwieriger werden lassen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Schülerinnen und Schüler zum Zeitpunkt ihres Eintritts in die Sekundarstufe I noch nicht das Könnensund Kompetenzprofil erreicht haben, das ihnen eine erfolgreiche Mitarbeit in der Orientierungsstufe ermöglichen würde.
Demzufolge muss das Schulsystem einmal mehr reformiert werden, um Schülerinnen und Schülern eine Schulform zu geben, die ihren Bedürfnissen entgegenkommt. Anstelle einer Scheinzweigliedrigkeit soll die neue Schulform ein echte Zweigliedrigkeit bieten, die Schülerinnen und Schülern ermöglicht, länger gemeinsam und somit auch nachhaltiger voneinander zu lernen. Dabei sollen nicht nur kognitive Leistungen im Fokus stehen, sondern praktische Leistungen gleichermaßen berücksichtigt werden, um unterschiedlichen Lerntypen gerecht zu werden. So soll beispielsweise die praktische Fertigung eines Möbelstücks mit der theoretischen Berechnung seiner Belastbarkeit gleichgesetzt werden. Beide Leistungen erfordern schließlich ein hohes Maß an Kompetenz. So soll praktischer veranlagten Schülerinnen und Schülern eine Chancengleichheit eingeräumt werden, ohne dass dabei etwa die Anforderungen gesenkt würden. Dies lässt sich nur durch eine insgesamt integrative Schulform erreichen, die, anders als jetzt, vor allem praxisorientiert in Projekten, die ein ganzheitliches, vernetztes, interdisziplinäres Lernen in Zusammenhängen ermöglichen, unterrichtet. Lehrkräfte werden dort nicht mehr ein Einzelkämpferdasein fristen, sondern in Teams unterrichten, die ihre verschiedenen Fachinhalte in die Projekte einfließen lassen. Die direkte Verknüpfung von Wissen, Kompetenz und Anwendung wird den Lernenden die Sinnhaftigkeit ihres Lernprozesses sofort klar werden lassen. Das Hinterfragen, weshalb nun ein Inhalt genau so gelernt werden muss, wird der Vergangenheit angehören.
Die Unterstützung der Lernprozesse und der individuellen Lernbiografien der Schüler wird durch multiprofessionelle Teams geleistet, die an jeder Schule installiert werden. Schülerinnen und Schüler werden so besser auf die Bedürfnisse der Arbeitswelt vorbereitet, wo stets in ganzheitlichen Prozessen und Zusammenhängen gearbeitet sowie lebenslang gelernt wird.
Kleinere Klassen und eine geringere Unterrichtsverpflichtung werden dazu beitragen, Lehrkräften mehr Planungszeit und gesundheitsförderlichere Arbeitsbedingungen zu bieten, als dies jetzt noch der Fall ist.
Dabei wird jedem Schüler ermöglicht, einen Abschluss der Sekundarstufe I zu erreichen, während das Prinzip „Keiner ohne Abschluss“ auch in Form eines immer noch möglichen Abschlusses der Berufsreife weiterhin umgesetzt werden wird. Was es jedoch nicht mehr geben wird, sind „Resteklassen“, wie die kooperativen Systeme sie teilweise heute mit den Berufsreifeklassen haben. Eine eigene Oberstufe oder aber Kooperationen mit gymnasialen Oberstufen, FOSen und Berufsbildenden Schulen ermöglichen darüber hinaus den Weg zum Abitur.
Beide momentan in der Sekundarstufe I vorhandenen Schulformen, die IGS sowie die Realschule plus, sollen in die neue Schulart überführt werden, in der die Stärken beider Schularten beibehalten und weiterentwickelt werden.
Zuletzt sei noch erwähnt, dass ebenso wenig wie bei den Schülern bei den Lehrkräften eine Zweiklassengesellschaft entstehen darf. Daher werden alle an der neuen Schulform tätigen Lehrkräfte in das vierte Einstiegsamt überführt werden, da ihre Arbeit mit jener der gymnasialen Lehrkräfte gleichwertig ist und somit auch gleich bezahlt werden muss.
Insgesamt wird eine stärkere, zukunftssicherere und praxisorientiertere Schulform entstehen, die den Erfordernissen des Arbeitsmarktes des 21. Jahrhunderts viel effektiver entgegenkommt, als dies die momentan vorhandenen Schulformen vermögen.