Rheinland-Pfälzische Schule

>> Die Welt machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell <<

Schon der Name verrät, dass eigentlich nichts an ihr mehr echt ist, nichts, wie es scheint. Auch wenn der Vorname Klarheit und Transparenz heuchelt, gibt es so etwas erst ab dem Ende des ersten Aktes. Den Zunamen komponierte Friedrich Dürrenmatt aus „Zacharoff, Onassis [und] Gulbenkian“, den Namen dreier der reichsten Männer der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. In ihm spiegelt sich das ganze Wesen seiner „alten Dame“, einer sagenhaft reichen, exzentrischen und eiskalt berechnenden Frau, die in Erscheinung und Wesen eher einem Cyborg gliche, wäre sie nicht so unwiderstehlich zynisch.

Doch ihr grotesker Zynismus vermag nicht über eine Tatsache hinwegzutäuschen, ja er weist nachgerade darauf hin: Die Zachanassian ist zu einem seelenlosen Wesen geworden, mehr Maschine als Mensch.

Pompös und sich kraft ihres Reichtums über alle Regeln und Gesetze der Gesellschaft hinwegsetzend, erscheint sie in der Manier einer mittelalterlichen Reisekaiserin (hätte es denn eine solche gegeben) in Güllen, einem bettelarmen und heruntergekommenen Nest, dessen einstmaliger Ruhm nur noch von den bröckelnden Fassaden und den Erinnerungen seiner Bewohner reflektiert wird. Und obwohl die Milliardärin die Güllener allenfalls mit geradezu herablassend geheuchelter Höflichkeit abkanzelt, wird sie selbst schließlich wie eine gottgleiche Königin behandelt, denn sie soll das Heil und den Wohlstand zurück in die geschundene Stadt bringen.

Doch der hat seinen Preis: das, was die Zachanassian unter Gerechtigkeit versteht, den Tod Alfed Ills, der sie als junges Mädchen geschwängert, betrogen und verlassen hat. Die Gerechtigkeit oder die Frage, was Gerechtigkeit eigentlich ist und wer bestimmt, was sie ausmacht, ist das zentrale Thema dieser tragischen Komödie, die deutliche Anleihen bei der antiken Tragödie nimmt. Diese Frage beantwortet Zachanassian eindeutig: „[…] mit meiner Finanzkraft leistet man sich eine Weltordnung. […] Wer nicht blechen kann, muß hinhalten, will er mittanzen. […] Anständig ist nur, wer zahlt, und ich zahle. Güllen für einen Mord, Konjunktur für eine Leiche.“ Demnach entscheidet die alte Dame höchstselbst, was Gerechtigkeit ist, und auch wenn sie selbst nicht physisch tot ist, fordert sie als Ausgleich für ihr erst ordinären lüsternen und dann steinreichen lüsternen Männern geopfertes Leben, für ihre Unschuld, für ihre verlorene Seele Ills Leiche. Ein Leben für ein Leben. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Claire Zachanassians Gerechtigkeit ist alttestamentarisch und unerbittlich, denn Klara Wäscher ist schon lange tot, und was von ihr geblieben ist, ist eine leere Hülle, eine aus organischem Material und Prothesen zusammengeleimte „Parze“, wie sie der Güllener Lehrer bezeichnet.

Und dennoch widerfährt Ill in gewisser Weise Gerechtigkeit, denn er zahlt für das, was er ihr angetan hat, auch wenn das weder unsere moderne Auffassung von Gerechtigkeit ist noch ihrer juristischen Definition entspricht. Auch die Güllener bezahlen – mit ihrer falschen Moral, die sie opfern müssen: Sie lassen alle Hüllen fallen und ihr wahres gieriges und lasterhaftes Wesen kommt zum Vorschein.

Dürrenmatts „alte Dame“ ist ein Paradelehrstück, nicht nur in Sachen Gerechtigkeit und falscher Moral, sondern auch in der Kunst des Dramas und seines Umgangs mit Stilmitteln. Handwerklich ist es Drama und Metadrama zugleich, auf der Funktionsebene leistet es Gesellschaftskritik, die nicht nur in die Mitte der Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts passt, es lebt den postmodernen Minimalismus und fährt mit Symbolen wie den im zweiten Akt allgegenwärtigen gelben Schuhen oder dem schwarzen Panther im Stile einer Groteske große Gefühle auf, nur um sie gleich darauf zu verlachen, zu verwerfen und infrage zu stellen.

Für die Verlebendigung des Literaturunterrichts ist dieses Drama unbedingt zu empfehlen. Erleben Sie es mit Ihrer neunten oder zehnten Klasse! Sie werden es nicht bereuen!

fh