Ich habe Deutschland im Kalten Krieg kennengelernt. Die Fronten waren geklärt, die Feindbilder klar. Wer erinnert sich nicht an Reagans Einordnung der damaligen Sowjetunion als „Empire of Evil“ – das sprichwörtliche Reich des Bösen, wie wir es auch aus den epischen Star-Wars-Filmen kannten? Dennoch wird mir die Zeit zwischen 1949 und insbesondere 1952 und 1990 auch immer als friedensbewegte Zeit in Erinnerung bleiben.
Ab der Geburtsstunde der Bundeswehr und der Aufnahme Deutschlands in die NATO formierte sich auch der Widerstand gegen beides in der deutschen Gesellschaft. Das war sicherlich auch verständlich. Nach den unruhigen bis kriegerischen Epochen der neueren deutschen Geschichte – dem Wilhelminischen Reich, der Weimarer Republik und dem sogenannten „Dritten Reich“ – wollte die Gesellschaft vor allem eines: Frieden. Viele Menschen befürchteten einen neuen Militarismus, der Deutschland schlimmstenfalls wieder in einen Krieg ziehen könnte – einen Krieg, der dann noch sehr viel verheerender gewesen wäre, als es die beiden Weltkriege zuvor gewesen waren, denn unlängst hatte die Wissenschaft die Büchse der Pandora geöffnet, indem sie die Atomkraft für die Waffentechnik erschlossen hatte. Verständliche Ängste also in der Tat.
Nachvollziehbar waren aber auch die Befindlichkeiten jener Menschen, die die Notwendigkeit sahen, in Deutschland nicht wieder ein prekäres pseudodemokratisches Experiment, wie es in der Weimarer Republik entstanden war, sondern vielmehr eine stabile und eben auch wehrhafte Demokratie zu erschaffen. Die neuen Realitäten des Kalten Krieges stellten andere als nur friedensbewegte Anforderungen an eine demokratische Gesellschaft, die unter keinen Umständen unter die nächste Diktatur fallen wollte, wie dies erkennbar im Schwesterstaat DDR bereits geschehen war. Die junge Bundesrepublik musste durch eine starke Bundeswehr innerhalb des westlichen Verteidigungsbündnisses geschützt werden.
In den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren standen sich Befürworter einer wehrhaften Republik und Friedensbewegte vergleichsweise unversöhnlich gegenüber. Nicht immer blieb es dabei bei friedlichem Protest gegen die NATO, gegen Atomwaffen oder den Vietnamkrieg. Manch einer machte seiner aufgestauten Wut auf den politischen Gegner auch gewaltsam Luft.
Auch heute hegen viele unserer Mitbürger noch ein gehöriges Misstrauen gegen alles Militärische, besonders wenn es darum geht, die Arbeit der Bundeswehr an Bildungseinrichtungen vorzustellen oder das Thema Zivilschutz dort zu platzieren.
So ist es nicht verwunderlich, wenn der Vorstoß der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger, Schulen mögen sich stärker dem Zivilschutz öffnen und ein „unverkrampftes Verhältnis“ zur Bundeswehr entwickeln, auf ein eher heterogenes Echo gestoßen ist. Nicht verwunderlich, denn so etwas ist so einfach in einem demokratischen föderalen (und bürokratischen!) und, nicht zu vergessen, geschichtsbewussten Staat wie dem unseren nicht zu machen. International mag es anders sein. Schulen in den USA haben traditionell ein paramilitärisches Wahlpflichtschulfach (JROTC – Junior Reserve Officer Training Corps beziehungsweise ROTC an Colleges und Universitäten), das darauf ausgelegt ist, junge Menschen auf eine Karriere als Offiziere in den US-Streitkräften oder auf eine berufsbegleitende Bereitschaft als Offiziere in der Reserve vorzubereiten.
Dass dies auch schon in der High School mit minderjährigen Schülern geschieht, zeigt, wie unterschiedlich – bei aller Annäherung unserer Kulturen – doch die deutschen und amerikanischen historischen Erfahrungen und Entwicklungen sind. Die Vereinigten Staaten hatten seit ihrer offiziellen Gründung und eigentlich schon seit der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung (Declaration of Independence, 4. Juli 1776) ein sehr unverkrampftes Verhältnis zum Militär, zum Zivilschutz und, wie allgemein bekannt, zum Waffenbesitz. Immer wieder musste sich die junge Nation verteidigen – gegen Feinde von außen und innen. So kämpften die USA nach ihrer Gründung im Krieg von 1812 gegen England, befanden sich von 1846 bis 1848 im Krieg mit Mexiko, verteidigten ihre Einheit von 1861 bis 1865 gegen die abtrünnigen Südstaaten, intervenierten 1898 in Kuba gegen Spanien und nahmen im 20. Jahrhundert an beiden Weltkriegen teil, wobei der Eintritt in den Zweiten Weltkrieg wesentlich durch den japanischen Angriff auf Pearl Harbor (Hawaii) am 7. Dezember 1941 ausgelöst wurde. Solche Erfahrungen prägen.
In der DDR gab es ebenfalls einen regelrechten Wehrkundeunterricht, da sich dieser von der Bundesrepublik nie als souveräner Staat anerkannte Teil Deutschlands als Grenzstaat zum „imperialistischen Westen“ besonders bedroht sah. Ähnliche Phänomene waren allerdings auch in anderen Staaten des Ostblocks zu beobachten.
In Russland ist jüngst wieder ein solcher Unterricht eingerichtet worden. Dort werden nun schon sehr junge Kinder für den Dienst an der Waffe gedrillt.
Natürlich muss auch hier auf die Unterschiede zwischen Deutschland und Russland gesehen werden. Während in totalitären Diktaturen wie der russischen solche Schritte einfach von den entsprechenden Machthabern angeordnet werden können, wären in Deutschland in Friedenszeiten für dieselben Maßnahmen mindestens ein vollständiges Gesetzgebungsverfahren mit den dazugehörenden Beratungen, Entwürfen und Abstimmungen sowie eine verfassungsrechtliche Prüfung und ein öffentlicher Diskurs notwendig.
Verglichen mit einer paramilitärischen Ausbildung wie in den USA oder Russland (wobei es den Russen und Amerikanern mitnichten um dieselben Lernziele und Ausbildungsergebnisse geht) geraten deutsche Jugendliche allenfalls auf eine sehr theoretische Weise mit dem Militär in Berührung – und zwar durch die Jugendoffiziere der Bundeswehr, die in die Schulen reisen und die Schüler über die Bundeswehr in ihrer Funktion als Parlamentsarmee sowie ihre Aufgaben im In- und Ausland informieren. Auch hierüber scheiden sich die Geister. Da sind diejenigen, die solche Besuche befürworten, und jene, die überzeugt sind, dass Jugendliche nicht mit solchen Informationen konfrontiert werden sollten, oder gar eine Militarisierung der Jugend befürchten.
Zunächst hatte auch die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Dr. Stefanie Hubig irritiert auf den Vorstoß Stark-Watzingers reagiert. Mitte März berichtete die Süddeutsche Zeitung, Frau Dr. Hubig habe Stark-Watzingers Aussagen zu Zivilschutzübungen als „nicht nachvollziehbar“ empfunden. Sie wies auf die vorhandene Handreichung für den Umgang mit Krisensituationen hin, die bereits 2007 veröffentlicht wurde. Zudem verwies sie auf die 279 Besuche von Jugendoffizieren an rheinland-pfälzischen Schulen, die allein 2023 stattgefunden haben. Bei 521 infrage kommenden weiterführenden Schulen im Land stellt dies immerhin eine Abdeckung von mehr als 50 Prozent dar, eine Quote, die zeigt, dass das rheinland-pfälzische Schulwesen schon jetzt ein eher „unverkrampftes Verhältnis“ zum deutschen Militär hat, um es mit den Worten Stark-Watzingers auszudrücken.
Von uns auf dieses Thema angesprochen, gab Hubig zu Protokoll, die „Zusammenarbeit des Landes Rheinland-Pfalz mit der Bundeswehr und ihren Jugendoffizieren“ geschehe vor dem Hintergrund, „sicherheits- und friedenspolitische Fragen als Bildungsauftrag zu begreifen und zu behandeln“. Eine Behandlung dieses Themas „sollte sich nicht in Übungen für den Ernstfall erschöpfen“. Es sei nicht der „Kontext der konkreten Vorbereitung und Gefahrenabwehr“ in den Fokus zu nehmen. Vielmehr gehe es bei der schulischen Aufbereitung solcher Themen um eine Erziehung zu einer „möglichst friedliche[n] Konfliktbewältigung und Friedenserhaltung.“ In diesem Zusammenhang seien „alle in den rheinland-pfälzischen Schulen agierenden Institutionen dem Beutelsbacher Konsens verpflichtet, auch die Jugendoffiziere der Bundeswehr“.
In der Tat sollte und muss das so sein. Der Beutelsbacher Konsens hat als seine wichtigste Maxime das Überwältigungsverbot. Die Schüler sollen befähigt werden, ein „eigenes und fundiertes Urteil“ zu fällen. Das Selbstverständnis der Jugendoffiziere der Bundeswehr ist aber ohnehin, keine Rekrutierer, keine Werber zu sein, sondern Aufklärer über den Auftrag der Bundeswehr innerhalb der parlamentarischen Demokratie.
Natürlich gibt es nicht nur den Verteidigungsfall, den es als mögliche Krise zu berücksichtigen gilt. Auch Katastrophenfälle oder einfache Brände sind in den Blick zu nehmen. Hierzu gibt es in manchen Staaten der USA regelmäßige Drills in den Schulen – zum Beispiel in den Staaten, in denen schwere Sturmereignisse wie Tornados ein Teil der Lebensrealität der Menschen sind. Immer wieder kommt es im Südosten der USA oder auch im Mittleren Westen zu starken Stürmen, bei denen auch Schüler aus dem Stegreif richtig reagieren müssen.
Auch in Großbritannien kennt man Katastrophenschutzübungen in den Schulen, die von der Unterrichtung der Kollegien und der Schüler über Sicherheitsbeschilderung bis hin zu regulären Übungen alle Aspekte der Schulsicherheit mitdenken und abdecken.
Solche sehr minutiösen Drills und Vorbereitungen allerdings schweben dem rheinland-pfälzischen Bildungsministerium nicht vor. Man müsse darauf achten, dass man „unter den jungen Menschen, die insbesondere durch die Coronapandemie ohnehin schon viele Belastungen zu tragen hatten, keine unnötigen Ängste“ schürt. Hier sei man versucht, getreu der Devise „Prävention statt Panikmache“ zu handeln.
Im Übrigen sieht sich die Landesregierung für Krisen- und Katastrophenfälle unter anderem durch den „Krisenordner“ von 2007 gut aufgestellt. Der werde aktuell überarbeitet. Das Land arbeite dabei mit „vielen Partnern aus dem schulischen und außerschulischen Bereich zusammen“. Hierbei fänden „die Ereignisse der vergangenen Jahre“ Berücksichtigung, also sowohl die „komplizierter gewordene Sicherheitslage in Europa“ als auch die „Lehren, die wir aus Naturkatastrophen wie der Flut im Ahrtal ziehen“, so Bildungsministerin Hubig.
Zusätzlich weist die Pressestelle des Bildungsministeriums darauf hin, dass an den Schulen in Rheinland-Pfalz bereits flächendeckend obligatorische Krisenteams existieren. Diese sollten aus „fünf bis sieben Personen bestehen“, darunter sollte unbedingt auch ein Mitglied der Schulleitung sein. Mitglieder der Krisenteams sollten persönlich an dem Thema Krise interessiert und zur Mitarbeit im Krisenteam motiviert sein. Ein Muss ist eine hohe „Belastbarkeit in Stress-Situationen.“ Um wirkungsvoll agieren zu können, müssen Mitglieder darüber hinaus im Kollegium gut vernetzt und akzeptiert sein. Die „Fähigkeit, im Team zu arbeiten“, sowie der Einsatz „bereits vorhandener Kompetenzen im Themenfeld“ runden das Profil der Krisenmanager ab.
Unter anderem kümmern sich die Krisenteams um die Planung und Durchführung von Übungen, wobei eine Mehrbelastung des Gesamtkollegiums vermieden werden soll. „Zukünftig [ab Herausgabe der Neufassung des Krisenordners, die für das kommende Schuljahr geplant ist] wird einmal jährlich zusätzlich zu der Brandschutzübung für die Schülerinnen und Schüler eine Übung des Krisenteams stattfinden, das jede Schule landesweit hat.“ Diese Übungen sollen jeweils ein „im Krisenordner erfasstes Szenario“ aufgreifen. Bei der Wahl des Szenarios werden die Schulen freie Hand haben, was natürlich auch ein standortspezifisches Üben ermöglichen wird. Flankiert wird der neue Krisenordner durch eine Verwaltungsvorschrift, „eine Handreichung sowie Fortbildungen und Beratung durch [die] Schulaufsicht sowie den Schulpsychologischen Dienst am Pädagogischen Landesinstitut“.
Im Kontext der Krisenprävention treten die multiprofessionellen Teams, insbesondere die Schulsozialarbeit, in den Fokus. 20 Millionen Euro investiere das Land jährlich in die Unterstützung der Schulsozialarbeit. „Im Rahmen des Startchancenprogramms hat sich Rheinland-Pfalz mit Erfolg dafür eingesetzt, dass Schulsozialarbeit als eine der drei Säulen eine angemessen große Rolle spielt,“ so das Bildungsministerium. Hierbei nehme man besonders die Grundschulen mit besonders bedürftigen Kindern in den Blick, die man mit Schulgesundheitsfachkräften austatte. Dies diene letztlich der Krisenprävention.
Den Ganztagsschulen in Angebotsform ermögliche das Land indes die Übernahme von 100 Prozent der Personalkosten bei großer Freiheit, wie man personalisieren wolle. „Vor Ort entscheiden die Schulen selbst über die Zusammensetzung der multiprofessionellen Teams.“
Fazit:
Es bleibt abzuwarten, ob die Mittel und Bemühungen, die derzeit landesseitig in die Krisenprävention investiert werden, tatsächlich ausreichen werden, um alle Schulen für die Herausforderungen unserer Zeit fit zu machen. Kolleginnen und Kollegen mancher Schulen, die noch nicht durch solche Maßnahmen erreicht worden sind oder sich mit vergleichsweise größeren Herausforderungen konfrontiert sehen, mögen Zweifel äußern. Positiv aber bleibt zu bemerken, dass der Dienstherr durchaus die Handlungsnotwendigkeiten erkannt hat und im Sinne der Schulen tätig geworden ist. Letztlich brauchte es dazu wohl auch keinen Anstoß aus dem Bundesministerium für Bildung und Forschung.