Es ist eigentlich weder neu noch überraschend: Es gibt bundesweit zu wenige Lehrkräfte. Etwa 40.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen der Bundesrepublik nach einer konservativen Schätzung – Tendenz steigend. Das Problem indes ist hausgemacht. Sehenden Auges ist die deutsche Bildungspolitik in den pädagogischen
Bankrott gesegelt – immer hart am Wind der Sparsamkeit. Vor allem am Personal wurde gespart. Prekäre Zeitverträge sind billiger als unbefristete Beschäftigungsverhältnisse oder Planstellen. Lehrkräftebindung? Fehlanzeige – trotz für die Personaler der Bundesländer wohl kaum überraschender Pensionierungswellen. Warum hat man nicht mit mehr Weitsicht agiert und eine vorausschauende Einstellungspolitik betrieben?
Das ist natürlich eine rhetorische Frage, denn stattdessen wurden über mehr als dreißig Jahre Lehrkräften die Privilegien gestrichen und die Aufgaben erhöht. Die ungebundene Arbeitszeit dehnt sich mittlerweile weit in die Privatsphäre der Pädagogen aus; Freizeit kennt man so gut wie gar nicht mehr. Die Inklusion war hierzulande ein Grund, Förderschulstandorte zu schließen, während man förderbedürftige Kinder in die Schwerpunktschulen lotste, wo ihnen mangels ausreichend ausgebildeter Lehrkräfte und multiprofessioneller Teams zuweilen wenig bis gar nicht geholfen werden kann. Sozial-emotional beeinträchtigte Kinder fahren immer noch weitgehend unter dem Radar, es hakt an allen Ecken und Enden. Auch die Ausbildung ist dringend reformbedürftig, von der Digitalisierung ganz zu schweigen.
Längst gilt allenthalben: Lücken füllen, Löcher stopfen. Zu nachhaltigem Unterricht – von der Schulentwicklung ganz zu schweigen – kommen viele zu selten. Natürlich ist das von vielen Faktoren abhängig: von der Frage Stadt oder Land, der finanziellen Stellung der Schulträger, der Klientel, die eine Schule bedient, und vielem mehr. Dennoch ist ein gemeinsamer Trend erkennbar und der führt üblicherweise abwärts.
Natürlich sind solche Arbeitsbedingungen nicht gesundheitsförderlich. Immer mehr Lehrkräfte halten dem hohen Druck in den Schulen nicht mehr Stand. Selbst die Jüngsten erleiden mittlerweile Burn-outs und fallen monatelang aus. Die Personaldecken werden dabei immer dünner und die Kollegen, die noch durchhalten, ruinieren sich ihre Gesundheit. Wenn es nicht aufs Gemüt schlägt, dann eben auf das Immunsystem, was sich dann in der Grippe- und Erkältungszeit bemerkbar macht. Psychosomatische Erkrankungen sind in der Schule so häufig wie sonst fast nirgends und führen vermehrt zu Langzeitausfällen. Dann wird ein ohnehin angeschlagenes System überdehnt, Klassen müssen in den Fernunterricht ausgelagert werden und Schulen können ihren Bildungsauftrag nur noch rudimentär erfüllen.
Man sollte also glauben, dass es höchste Zeit ist, die Lehrkräftegewinnung dadurch anzukurbeln, den Beruf wieder attraktiver zu gestalten, indem man beispielsweise Lehrkräften entzogene Privilegien wieder gewährt, Grundschullehrer in die Besoldungsstufe A13 hebt und die Unterrichtsverpflichtung herabsetzt, um den schwer unter Druck stehenden Pädagoginnen und Pädagogen mehr Freiraum für die unzähligen nicht unterrichtlichen Nebenaufgaben zu geben, die sich immer weiter in ihre Freizeit fressen.
Aber nein, weit gefehlt. Statt Entlastungen schlägt die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) vor, Lehrerinnen und Lehrern Mehrarbeit zu verordnen, um mit dem selbst verursachten akuten Lehrkräftemangel „umzugehen“.
Punkt 1: Erschließung von Beschäftigungsreserven bei qualifizierten Lehrkräften
Die Forderung, man solle Lehrkräften eine noch höhere Unterrichtsverpflichtung abverlangen, klingt in den Ohren der Betroffenen wie Hohn und kann nur dazu führen, ohnehin an der Schwelle zur Überlastung stehende Lehrende in den gesundheitlichen Ruin zu treiben.
Die Denkstrukturen der hoch bezahlten Mitglieder der Kommission muten eher bescheiden an. Statt wirkliche Konzepte zu entwerfen, sollen diejenigen, die bereits ihr Möglichstes geben, um die Bildungsmisere in Schach zu halten, noch mehr arbeiten. Lapidar heißt das in politisch optimiertem Deutsch: „Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung in Anlehnung an das Konzept der Vorgriffsstunden“ – die sind in Rheinland-Pfalz bereits als „Ansparstunden“ bekannt. Die Idee ist also, dem Fass den Boden auszuschlagen, um zu sehen, ob darunter noch Reserven schlummern.
Doch das ist nicht alles. Die Damen und Herren Professoren wollen auch an die altersbedingte Deputatsreduzierung ran. Haben sich also ältere Kolleginnen und Kollegen in jahrzehntelangem Dienst zwei Stunden Reduktion verdient, so wollen die Honoratioren der SWK ihnen das wieder entreißen.
Um die Sache auf die Spitze zu treiben, soll der Ruhestandseintritt „angepasst“ werden. Die Regelaltersgrenze werde nur von ca. einem Drittel der Neupensionäre erreicht. Das missfällt natürlich der braven Professorenriege. Warum das so ist, interessiert die Hochschullehrer indes wohl wenig. Es wird schlicht nicht gefragt. Altersteilzeit adieu. Stattdessen soll es nun „Initiativen zur Beschäftigung von Lehrkräften im Ruhestand“ geben. Tja, „wie gewonnen, so zerronnen“, ist man versucht zu seufzen und muss sich die Frage stellen, wie realistisch es eigentlich ist, pensionierte Lehrkräfte zu motivieren, in Teilzeit an die Schulen zurückzukehren, um dort zu helfen, den Mangel zu verwalten. Die Rückkehrer werden zahlenmäßig erwartbar eher der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein sein. Da sie wirtschaftlich nicht auf den Job angewiesen wären und ohnehin nur maximal 450 Euro hinzuverdienen könnten, weil ihnen jeder Euro darüber hinaus von der Pension abgezogen würde, ist zu befürchten, dass viele auch wieder das Handtuch werfen werden, um ihre Nerven zu schonen und ihren Ruhestand zu genießen.
Natürlich werden einzelne Lehrkräfte, solche etwa, die später in den Beruf gekommen sind und nicht die vollen Pensionsansprüche erreichen, sicherlich die Möglichkeit begrüßen, länger arbeiten zu dürfen, wenn sie es denn wollen. Das wird aber eine eher zu vernachlässigende Anzahl betreffen. Da hilft es auch wenig, wenn Schulleitungen, wie die SWK es fordert, eine größere Flexibilität „beim Abschluss entsprechender Verträge“ erhalten.
Des Weiteren schlägt die Kommission vor, die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit zu begrenzen, womit der Lehrberuf noch ein gutes Stück unattraktiver werden würde. Viele Lehrkräfte nutzen die Teilzeit, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Das soll ihnen jetzt auch noch verwehrt bleiben. „Flankierende Maßnahmen“ wie Kinderbetreuung sollen Abhilfe schaffen. Doch welches Personal soll die Kinderbetreuung denn leisten? Und wo? An Schulen? In welchen Räumen?
Schule ist im noch relativ jungen 21. Jahrhundert zu einer Gesamtmangellage geworden. In maroden Gebäuden und unzeitgemäßen Räumlichkeiten soll
moderner Unterricht stattfinden, zu dem oft die Mittel fehlen. In vielen Schulen fehlen Räume, nicht zuletzt weil die Schulträger sich aus finanziellen Gründen gegen Sanierungen und Neubauten wehren. Und selbst wenn die Räume geschaffen werden würden, fehlten bundesweit Erzieherinnen und Erzieher. Es handelt sich also um ein Luftschloss.
Der unverfrorenste Vorschlag ist allerdings die Deputatserhöhung. Lehrkräften, die seit Langem um eine Verringerung des Regeldeputats kämpfen, weil ihre vielen unterrichtsfremden Nebenaufgaben kaum noch Zeit zur Vor- und Nachbereitung des Unterrichts lassen, nun als Lohn für ihre unermüdliche und manchmal leider auch krank machende Arbeit noch das Deputat aufzustocken, zeigt eindeutig, dass die SWK die Realität an Schulen nicht erfasst, da sie ihre Erkenntnisse nicht aus der schulischen Praxis schöpft, sondern aus zahlreichen statistiklastigen Studien, die sie nicht müde wird zu zitieren.
Trotz allem sind sich die Autoren bewusst, dass man Lehrkräften nicht einfach ohne jede Kompensation die Arbeitszeit erhöhen kann. Die „Vorgriffsstunden“ sollen nur befristet geleistet werden, um sie dann wieder abgelten zu können. Dies erscheint aber vor der Lehrkräftemangellage recht unwahrscheinlich. Selbst die SWK räumt freimütig ein, „dass der anhaltende Lehrkräftemangel es in den kommenden 20 Jahren schwer machen wird, Vorgriffsstunden durch Deputatsreduktion auszugleichen, weshalb die finanzielle Abgeltung realistischer zu sein scheint.“ Sprich: In den allermeisten Fällen werden die Stunden finanziell abgegolten werden, was aber gänzlich unattraktiv ist, da solche Stunden sehr viel geringer vergütet werden als beispielsweise eine Handwerkerstunde. Ein Freizeitausgleich wäre um vieles besser. Dass die SWK den Lehrkräftemangel aber auf 20 Jahre prognostiziert, lässt nicht vermuten, dass viel getan werden wird, um neue Kolleginnen und Kollegen in die Lehrämter einzustellen. Man will sich wohl eher auf das vorhandene und bereits überlastete Personal stützen.
Andererseits finden sich auch brauchbare Vorschläge unter dem Wust der Verzweiflung bei Punkt 1. Zuvorderst wäre hier die löbliche Empfehlung der SWK zu
nennen, Lehrkräfte gänzlich von Organisations- und Verwaltungsaufgaben freizustellen. Hierfür sollen dauerhaft Schulverwaltungskräfte eingestellt werden. Dennoch sei auch hier kritisch angemerkt, dass eine Schulverwaltungskraft sich auch nicht um das Seelenleben der Schülerinnen und Schüler kümmern kann und daher auch weiterhin eine dringende Notwendigkeit besteht, dafür zu sorgen, dass alle Schulen mit multi- professionellen Teams ausgestattet werden. Einen weiteren Dämpfer findet man in dem Hinweis, Schule bekämen für organisatorische Aufgaben Anrechnungsstunden. Diese AEF-Stunden werden allerdings nur
sehr begrenzt für besondere Tätigkeiten gewährt. Darunter fallen nicht die Organisation einer Klassenfahrt oder die Übernahme eines Fachvorsitzes. Selbst Klassenleitungen erhalten keine Anrechnungsstunden, obwohl sie zahlreiche außerunterrichtliche Verwaltungs- und Betreuungsaufgaben wahrnehmen. Demzu- folge wird man daraus auch keine signifikante Zahl an AEF-Stunden zurückgewinnen. Dennoch wäre mit Blick auf die Lehrergesundheit die Entlastung des pädagogischen Personals von organisatorischen Aufgaben sehr zu begrüßen.
Kritisch betrachtet werden sollten jedoch die Empfehlung einer Erleichterung der Anerkennung ausländischer Abschlüsse und der Verzicht auf ein zweites stu-
diertes Fach, auch wenn es sich bei dem unterrichteten Fach um ein Mangelfach handelt. Hier sollte man darauf achten, dass dies nicht letztlich zu einer Entwertung des Lehramts an sich führt. Ausländische Abschlüsse sollten mindestens gleichwertig sein. Notfalls sollten fachliche oder pädagogische Defizite nachgebildet werden müssen.
Letztlich schlägt die SWK das Mittel der Abordnung von Schulen mit Überhang an Schulen mit Bedarf vor. Zum einen wird dieses Mittel bereits angewandt, zum anderen hat es seine Grenzen, da der Dienstherr nicht ohne Rücksicht auf die individuelle Lebenssituation einer Lehrkraft eine Abordnung anordnen kann. Sie muss zumutbar sein. Zudem sind manche Lehrkräfte nicht zu versetzen oder abzuordnen. Dies trifft beispielsweise auf Mitglieder des örtlichen Personalrats zu.
Aus Punkt 2: Weiterqualifizierung von Gymnasiallehrkräften für andere Schulformen
In Anbetracht des Überhangs von Gymnasiallehrkräften und ihrer Notwendigkeit, im Lehrberuf Fuß zu fassen, erscheint ihre Weiterqualifizierung für andere Schularten zunächst sinnvoll. Allerdings ist hier zu beachten, dass solche Lehrkräfte besonders bei einem Wechsel in die Lehrämter an Grundschulen, Realschulen plus und Förderschulen auch einen erheblichen pädagogischen Nachqualifizierungsbedarf mit sich bringen. Da die SWK hier bis zu 27 Monate bei reduziertem Deputat ansetzt, wird eine Entlastung aus dieser Maßnahme wohl erst mittelfristig zu erwarten sein. Selbst wenn der Wechsel in ein anderes Lehramt oft gelingt, sollte daher vor allem schon während des Studiums beratend eingegriffen werden, um den Wechsel zu erleichtern und den Nachqualifizierungsbedarf zu minimieren oder auszuschließen. Glücklicherweise ist Rheinland-Pfalz in dieser Hinsicht auf dem richtigen Weg.
Aus Punkt 3: Entlastung und Unterstützung qualifizierter Lehrkräfte durch Studierende und andere, formal nicht (vollständig) qualifizierte Personen
Die Anwerbung nicht voll qualifizierter Kräfte für den Regelunterricht sollte allenfalls maßvoll angewandt werden, da diese zur Abwertung des Lehrberufs, mithin
zu einer Art „Lehrer light“, führen könnte. Sicherlich sind diese Kräfte für den Vertretungsunterricht momentan unverzichtbar, allerdings kann es keine Patentlösung sein, auf Dauer Studierende oder andere Minderqualifizierte als Klassenleitungen in Grundschulen einzusetzen oder in der Sekundarstufe I den
Regelunterricht bestreiten zu lassen.
Über Einsatz und Unterstützung befristet eingestellter Vertretungslehrkräfte, so die SWK, sei wenig bekannt. Hier ist es gut vorstellbar, dass die Länder sich bedeckt halten, denn Notstandsverwaltung ist schließlich nicht gütesiegelverdächtig. Strukturen zur Unterstützung dieser Vertretungskräfte bestehen nämlich seitens der Dienstherren kaum. Es ist grundsätzlich Sache der Schulen, diese Menschen in ihre schulischen Strukturen einzubinden, doch oft fehlt die Zeit für eine Einarbeitung, da die voll qualifizierten Lehrkräfte mit ihren Aufgaben ausgelastet sind.
Punkt 4: Hybridunterricht, höhere Selbstlernzeiten und „Anpassung“ der Klassenmesszahl
Der Hybridunterricht ist uns noch aus der Zeit der Pandemie in wacher, aber gemischtlauniger Erinnerung. Diesbezüglich erkennt die SWK selbst: Ohne die nötige digitale Infrastruktur ist ein Hybridunterricht nicht zu realisieren. Daher wird dieser möglicherweise ein Modell für städtische Schulen, die bereits über Glasfaserverbindungen verfügen. Bei eher ländlichen Schulen, von denen einige immer noch mit lediglich 16 MBit versorgt sind, dürften hybride Unterrichtsformen noch Zukunftsmusik bleiben.
Doch auch wenn das hybride Arbeiten technisch funktionieren sollte, ist es noch lange nicht jedermanns Sache. Schließlich muss auch die per Konferenz zugeschaltete Lerngruppe während des Unterrichts parallel betreut werden, sonst kommt es zu einem quasiuniversitären Vorlesungsformat, das den Bedürfnissen der Lernenden nicht gerecht werden kann. Dies bedeutet eine Doppelbelastung für die Lehrkraft und trotz der Zuschaltung bleibt eine Benachteiligung der virtuell teilnehmenden Lerngruppe bestehen. Zumindest wäre also darüber nachzudenken, wie während der Pandemie exerziert, den beiden teilnehmenden Gruppen im Wechsel die Möglichkeit zu geben, in Präsenz am Unterricht teilzunehmen und Netzwerke zu schaffen, innerhalb deren sich Schulen gegenseitig unterstützen und kooperieren. Am ehesten erscheint der Hybridunterricht in der gymnasialen Oberstufe möglich; für Schulformen, deren Schüler mehr Unterstützung benötigen, ist er minder geeignet.
Die Erhöhung der Selbstlernzeiten beschränkt auch die SWK auf die gymnasiale Oberstufe, da hierfür ein hohes Maß an autodidaktischer Kompetenz und Disziplin notwendig ist. Das computergestützte kooperative Lernen sehen die Kommissionsmitglieder hingegen auch für die gesamte Sekundarstufe als möglich an. Da hier nicht explizit auf die gymnasiale Sekundarstufe abgehoben wird, ist davon auszugehen, dass dies auch die Realschulen plus und die Integrierten Gesamtschulen betreffen wird. In Anbetracht des gegenüber den Gymnasien höheren pädagogischen Aufwands sollte man solche experimentellen Lernformen dort aber nur für die neunten und zehnten Klassen zulassen, selbst wenn eine Unterstützung durch Skripts und andere Hilfsmittel gegeben ist.
Mit der „Anpassung“ der Klassenmesszahlen bewegen wir uns einmal mehr im Reich der politischen Euphemismen, denn es geht natürlich um eine Anpassung nach oben, genau wie bei der Unterrichtsverpflichtung. Die positiven Effekte kleiner Klassenfrequenzen seien, so die SWK, sehr gering und beschränkten sich auf bessere Leistungen einiger Schüler in den Fächern Deutsch und Mathematik sowie auf eine geringere Wahrscheinlichkeit, eine Klasse wiederholen zu müssen. Diese Auffassung walzen die Autoren breit aus, indem sie zahlreiche Expertenmeinungen anführen, die angeblich zu keinem anderen Ergebnis gekommen seien. Doch halten diese Hochschulmeinungen der Realität stand? Haben die genannten Experten selbst an den betroffenen Schulen unterrichtet oder haben sie die Praxis nur vom Elfenbeinturm aus betrachtet?
Die tatsächlichen Bildungspraktiker unterhalten zu den positiven Auswirkungen kleinerer Klassenmesszahlen nämlich eine den Forschungs-(?))Meinungen diametral entgegengesetzte Auffassung, die aber der Empirie und nicht etwa der Büchergelehrsamkeit entspringt. Die Tatsache, dass die Lehrkräfte gerade eine höhere Klassenmesszahl und damit höhere Klassenfrequenzen als einen zentralen Belastungsfaktor sehen, wird auch von den SWK-Verantwortlichen erwähnt, aber, so hat es den Anschein, als Randnotiz geflissentlich unter den Teppich gekehrt. Entsprechend vorsichtig fällt die Empfehlung aus. Die Klassenfrequenzen sollen nur dort erhöht werden, wo die Messzahlen unterschritten werden, und auch nur, wenn die „Räumlichkeiten dieses zulassen“. Kleine wohnortnahe Schulen sollen zunächst nicht hierzu verpflichtet werden, tendenziell aber „zu größeren Einheiten“ zusammengefasst werden. Was genau dahintersteckt, wird nicht erläutert, das böse Wort der Schulschließung will man wohl nicht gebrauchen.
Die ganze Unsicherheit der Hochschulbildner zeigt sich dann darin, dass der Hammer der Erhöhung der Klassenmesszahl als Ultima Ratio vorbehalten bleibt.
Aus Punkt 5: Maßnahmen zur Gesundheitsförderung
Damit der Protest der Lehrkräfte nicht zu laut wird, folgt nun ein ellenlanger Sermon zur Gesundheitsförderung für die Betroffenen, der ihnen zum Teil aberwitzig vorkommen muss. Auf drei Seiten führen die Autoren aus, wie Lehrkräfte sich für die geforderten Mehrbelastungen gesundheitlich fit machen sollen. Das Absurdeste daran ist, dass diese gesundheitsförderlichen Maßnahmen genau das kosten, was Lehrkräfte entweder gar nicht oder zu wenig haben: Zeit.
Von „Achtsamkeitstrainings“ in Form von Meditation, Atem- und Visualisierungsübungen ist die Rede. Wer sich da bald im Pädagogen-Ashram sieht, mag so falsch nicht liegen.
Zudem würde man gestandenen Lehrkräften einen nicht unwesentlichen Teil ihres Berufs gerne noch einmal erklären – in Kompetenztrainings zur Klassen- und
Gesprächsführung. Für die meisten Pädagogen kommt das vermutlich etwas spät, hört man sich unversehens denken. Doch weit gefehlt. Gerade die älteren Lehrkräfte wollen die SWK-Autoren „unterstützen“, um zu verhindern, dass diese verfrüht den Gang in den Ruhestand antreten, weil sie mit den Klassensituationen nicht mehr zurechtkommen. An dieser Stelle möchte man dem pädagogischen Elfenbeinturm die Streitschrift Lob der Disziplin von Bernhard Bueb als Bettlektüre empfehlen.
Kurzum: Coachings, Trainings, Fortbildungen, für die keine Zeit bleibt, schon jetzt nicht und erst recht nicht, sollten die Länder – Gott bewahre – den Empfehlungen der SWK folgen wollen, und – ach ja – nicht zu vergessen: salutogene Führung durch die Schulleitungen. Herzlichen Dank.
Punkt 6: Ferner liefen … Quer- und Seiteneinstieg
Der sechste und letzte Punkt bringt keine Überraschungen und auch sonst nichts Neues. Der Quer- und Seiteneinstieg wird auf einer halben Seite nachgeschoben. Natürlich sind dies auch jetzt schon altbekannte Mittel der Lehrkräftegewinnung, die nun optimiert werden sollen. Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Fazit: Viel Papier, wenig Kunde von der pädagogischen Praxis
Es ist beabsichtigt, mit den vorhandenen menschlichen Ressourcen Löcher zu stopfen, wo es nur geht. Wirkliche Reformansätze, Innovationen, den Willen, zu
gestalten, sucht man vergebens auf den immerhin fast 29 Seiten. Nur wenige sinnvolle Ideen und Vorschläge sind in den „Empfehlungen“ der Kommission enthalten, dankenswerterweise gehört zumindest die Forderung nach Schulverwaltungskräften dazu. Entgegen stehen vor allem die unattraktive finanziell abzugeltende Erhöhung der Deputate und die gleichzeitig drohende Anhebung der Klassenmesszahlen, die von der Kommission zwar wissenschaftsbewehrt, jedoch aus empirischer Sicht völlig falsch bewertet wird. Da helfen auch keine Achtsamkeitstrainings oder Meditationssitzungen. Als Praktiker fragt man sich bei der Lektüre dieses Werks, ob da nicht die Phalanx der deutschen Bildung die Bankrotterklärung des Bildungssystems aufgesetzt hat und insgeheim viel ratloser ist als jede Primar- und Sekundarstufenlehrkraft. Bei all den fleißig zusammengetragenen Quellen, die auch brav parenthetisch zitiert werden, vermag die Schrift nicht zu überzeugen.