Rheinland-Pfälzische Schule

Autorität als Lehrer – Übel oder Notwendigkeit? Was Schülerinnen und Schüler in der Pubertät wirklich brauchen.

Eine unvergessliche Lehrerfortbildung

Vor vielen Jahren nahm ich im Rahmen meiner Ausbildung in Themenzentrierter Interaktion (TZI) mit noch 30 anderen Lehrkräften an einem Persönlichkeits-Fortbildungskurs teil. Geleitet wurde der Kurs von einem Psychotherapeuten, der zugleich TZI-Lehrer war. Schon der Titel der Veranstaltung hatte für viele den Nerv ihres Lehrerberufes getroffen: „Autorität als Lehrer – Übel oder Notwendigkeit?“ Entsprechend der selbstaktivierenden TZI-Methode gab es dabei kaum Vorträge, wohl aber viele Übungen in Kleingruppen, deren Ergebnisse dann im Plenum vorgetragen wurden. Dies ergab anschließend enormen weiteren Gesprächs- und Diskussionsbedarf.

 

So geriet der ganze Kurs immer tiefer in die Autoritätsproblematik, mit der es Lehrkräfte beruflich notwendigerweise zu tun haben. Denn ihr „Klientel“ – Jugendliche in der Pubertät, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und in ihrem Reifungsprozess – sind ja gerade auf dem Weg, herkömmliche Autoritäten wie Eltern oder Lehrkräfte in Frage zu stellen, um sich selbst finden zu können. Uns Teilnehmern half es sehr, uns an die Lehrkräfte mit einer wirklichen Autorität zu erinnern, die wir in unserer eigenen Schulzeit gehabt hatten, und uns bewusst zu machen, worin das Geheimnis ihrer „echten“ Autorität und Ausstrahlung bestand. Von dem Kurs nahm ich bezüglich einer positiven  Lehrerautorität folgende Erkenntnisse mit:

  • Eine reine Kuschelpädagogik ist besonders in Jungenklassen der falsche Ansatz, wenn klare Ansagen und harte Grenzziehungen erwartet werden. Die Schüler haben es dann verdient, dass diese Grenzen vom Lehrer auch gesetzt werden.
  • Es ist eine verständliche, oft aber eine ganz falsche Haltung, sich als Lehrer von den Schülern auf der Nase herumtanzen zu lassen, nur um sich bei ihnen ja nicht unbeliebt zu machen. Genau das Gegenteil ist dann meist der Fall: Die Schüler verlieren den Respekt vor ihrem Lehrer.
  • Es sollte nicht das Ziel als Pädagoge sein, von den Schülern geliebt zu werden oder sich mit ihnen gar zu „verbrüdern“. Diese wollen in der Regel gar keinen Kumpel als Lehrer. Sie wollen ihn vielmehr respektieren können als ein erwachsenes Gegenüber, an dem sie sich orientieren und reiben können, der sie ernst nimmt, auch indem er Verstöße ahndet oder Konsequenzen zieht, wenn über die Stränge geschlagen worden ist.
  • Als Lehrer trage ich die Verantwortung für den Unterricht und für die mir anvertrauten Schüler. Darum ist es meine Pflicht, in jeder Situation Herr im Hause zu bleiben – in meiner inneren Autorität und auch ganz wörtlich gesehen im Klassenzimmer.
  • Echte und verantwortliche Liebe des Lehrers zu seinen Schülern kann daher auch heißen, konsequent zu sein, klare Grenzen zu setzen und auf deren Einhaltung zu bestehen. Auch dies gehört meiner Ansicht nach zu einer wirklichen Pädagogik des Herzens.
  • Es ist gut, neben dem lehrerzentrierten Unterricht viele andere Unterrichtsmethoden zur Verfügung zu haben und zu beherrschen: Partnerarbeit, Gruppenarbeit, Projektarbeit usw. Dennoch darf ich als Lehrer auch bei diesen anderen Unterrichtsformen niemals die eigentliche Leitung aus der Hand geben – keine einzige Minute lang.   

 

 

Schüler brauchen Klarheit und Orientierung

Zu einer menschlichen und lebendigen Pädagogik gehört es, als Lehrer klar und konsequent zu sein, selbst wenn dies von den Schülern dann vordergründig als garstig und abweisend empfunden werden sollte. Es ist wohl die pädagogische Kunst schlechthin, als Lehrer (s)einen klaren Weg zwischen echter Autorität (Ausstrahlung) und nur autoritärem Gehabe zu finden. Schüler haben dafür sehr empfindliche Sensoren und können durchaus unterscheiden, ob diese Ausstrahlung des Lehrers überzeugend oder nur vorgespielt ist.

 

Sie wünschen sich zu Recht einen Lehrer mit echter Autorität, der sie beachtet, liebt, ernst nimmt, fördert, unterstützt und den sie gleichzeitig respektieren können. Auch sollte er neben fachlichem Wissen echte Empathiefähgigkeit und Mitgefühl besitzen. Gleichzeitig erwarten gerade Jungen, dass ein Lehrer sich durchsetzen und überzeugend Grenzen setzen kann, wenn diese von der Klasse oder von einzelnen Schülern in Frage gestellt werden sollten. Indem Heranwachsende die Autorität des Lehrers testen, loten sie gleichzeitig aus, wie weit sie selbst gehen können. Dies gehört zur Pubertät im Allgemeinen und zum „Spiel“ des Unterrichts zwischen Schülern und Lehrer im Besonderen. Da dieser Aspekt der Pädagogik eine Grundvoraussetzung für einen guten Unterricht ist, in einer reinen „Kuschelpädagogik“ jedoch kaum zu finden sein wird, möchte ich im Folgenden dem Thema „Grenzen setzen“ noch etwas mehr Aufmerksamkeit widmen.

 

Ein Lehrer muss Grenzen setzen können

Die Grundlage für einen guten (Fach)Unterricht ist eine geklärte Beziehung zwischen den einzelnen Schülern, der ganzen Klasse und dem Lehrer. Beide Ziele des Bildungskanons – die Wissensvermittlung und die gleichzeitige Begleitung der Schüler bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung – können nur erreicht werden, wenn der Grundsatz „Erziehung durch Beziehung“ konkret Wirklichkeit wird. An dem Lehrer liegt es, dass innerhalb der bestehenden Schulstrukturen ein pädagogischer Raum eröffnet wird, in dem Fachunterricht stattfinden kann, die einzelnen Schüler individuell gefördert werden können und ein möglichst gutes Arbeitsklima herrschen kann.

 

Eine Grundvoraussetzung dafür, dass dies gelingen kann, ist jedoch, dass der Pädagoge selbst im Tiefsten seiner Persönlichkeit erwachsen geworden ist. Nur dann kann er die notwendige und würdevolle „Königsaufgabe“ erfüllen, die mit seinem Beruf verbunden ist: seinen Schülern Orientierung zu geben, ihnen ein Vorbild bei ihrer eigenen Persönlichkeitsentfaltung zu sein und sie dabei kompetent zu begleiten. Zu dieser Rolle gehört auch die Fähigkeit, einzelnen Schülern oder ganzen Klassen klare Grenzen setzen zu können.

 

Manche Schüler schreien förmlich danach, durch den Lehrer solche Grenzen zu erleben, weil sie diese zu Hause von überforderten oder selbst noch nicht ganz erwachsen gewordenen Eltern nicht mehr bekommen können. Heute wollen viele Eltern von ihren Kindern geliebt werden. Nicht selten machen sie ihren Kindern deshalb unangemessene Zugeständnisse, statt ihnen notwendige Grenzen zu setzen – nur um nicht ihre Liebe zu verlieren. Sie biedern sich ihren Kindern förmlich an. Verkehrte Welt! Eltern sollen ihre Kinder immer lieben. Es ist schön, wenn Kinder ihre Eltern ebenfalls lieben, das weiß ich selbst als Vater. Aber sie müssen dies nicht tun. Dazu sind sie nicht auf die Welt gekommen, um es einmal ziemlich drastisch und plakativ auszudrücken. Was aber Eltern ihren Kindern unbedingt beibringen sollten: den Eltern den notwendigen Respekt zu zollen.

 

Der Prozess des Erwachsenwerdens erfordert Begleitung und Orientierung

Warum aber ist die Klarheit und eine echte Autorität des Lehrers so wichtig, gerade für Schüler in der Pubertät? Während die Schüler mit Einsetzen des Pubertäts-Prozesses aufgrund ihrer biologischen Reifung ganz von selbst vom Kind zum Jugendlichen werden, gelingt der nächste Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen in der Regel nicht so leicht. Hier braucht es erfahrene Mentoren. Wir Lehrer sind eigentlich solche dafür prädestinierten Mentoren. Aber dazu müssen wir uns auch darüber bewusst sein, wenn wir die uns anvertrauten Schüler bei ihrem langjährigen Reifungs- und Übergangsprozess des Erwachsenwerdens adäquat begleiten wollen.

 

 

Ein konkreter Fall: Stefan, der unruhige Junge

Der folgende Fall ist keine Seltenheit. Er zeigt auf, dass sich hinter Störungen oft eine konkrete Ursache verbirgt.

 

„Vor vielen Jahren unterrichtete ich in einer 8. Klasse Religionslehre. Schon in der ersten Stunde zu Beginn des Schuljahres fiel mir Stefan, ein großer Junge, auf, der laufend störte. Er war sehr unruhig und lenkte auch die Nachbarschüler immer wieder ab. Von jungen Kollegen erfuhr ich, dass er zudem öfter ziemlich beleidigende und verletzende Äußerungen von sich gab. Daher hatte Stefan  schon eine Reihe von Strafarbeiten und Verweisen kassiert und wurde immer wieder kritisiert für sein Verhalten. Selbst ich als erfahrener Lehrer musste meine ganze Klarheit und Strenge aufbieten, um ihm die notwendigen Grenzen zu setzen. Mir war immer bewusst, dass es wegen dieses Jungen anstrengend werden könnte, wenn ich das Klassenzimmer betrat. Man konnte nie vor Unterrichtsstörungen durch ihn sicher sein. Was war mit ihm los?

 

Dann erfuhr ich gegen Ende des Schuljahres von der Schulleitung, dass seine Mutter am Tag zuvor gestorben war. Sie hatte Krebs und ein langes Leiden war vorausgegangen. Dies tat mir sehr leid für den 14-Jährigen, und in diesem Moment verstand ich etwas Grundsätzliches: Er war die ganze Zeit unter großem Druck gestanden wegen seiner Mutter und musste seine Angst unterdrücken, dass sie womöglich sterben könnte. Diese Befürchtung war nun eingetreten. Seine Mutter war die letzten Monate entweder im Krankenhaus oder zu Hause gewesen. Damit musste Stefan fertig werden, aber wie sollte so etwas gelingen? Stefan hatte also die ganze Zeit versucht, im Unterricht etwas Dampf abzulassen. Dies war offensichtlich seine Art und Weise, mit dem Unlösbaren umzugehen und irgendwie damit zurechtzukommen.

 

Instinktiv wusste ich, was jetzt zu tun war. Vor der nächsten Stunde bat ich den Jungen vor die Tür des Klassenzimmers und sagte ihm unter vier Augen Folgendes: ‘Ich habe gehört, dass Deine Mutter an Krebs gestorben ist. Das tut mir unendlich leid für Dich. Mein herzliches Beileid.’ Ich schaute ihn an und gab ihm die Hand, die er erst überrascht, dann aber fest drückte.

 

Ab diesem Zeitpunkt war Stefan in meinem Unterricht völlig verändert: Er war nun sehr ruhig. Vielleicht spürte er, dass zumindest ein Lehrer ihn und seinen Schmerz verstanden hatte. Doch kann man diesen Schmerz überhaupt verstehen oder nachfühlen? Ich finde, dass der Tod eines Elternteils für ein Kind oder für einen Jugendlichen in der Pubertät ein unendlicher, irreversibler Verlust ist, der durch nichts ersetzt oder ausgeglichen werden kann. Er hinterlässt in der Seele eines Jugendlichen eine klaffende, blutende Wunde.

 

Fazit

Störungen von Schülern können ganz unterschiedliche Ursachen haben – auch solche wie in dem soeben geschilderten Fall. Wichtig ist es, wenn irgendwie möglich, einen persönlichen Zugang zu solchen Schülern zu bekommen. Meine Erfahrung ist die: Nicht immer, aber oft löst sich eine solche Störung dann auf, wenn man auf die wahre Ursache gestoßen und einen vertrauensvollen Kontakt zu dem Schüler gefunden hat.

 

Literatur:

  • „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale“, ISBN 978-3-86991-404-6, (18,99 €, Epubli Berlin)
  • „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band II: Heldenreisen.“, ISBN 978-3-86991-409-1, (19,99 €, Epubli Berlin)
  • „Schule – Quo Vadis? Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens“., ISBN: 978-3-95645-659-6, (20,99 €, Epubli Berlin)      

Weitere Infos und Buch-Bezug: www.initiation-erwachsenwerden.de

 

Peter Maier
(Gymnasiallehrer a. D. für Physik und Religion)

 

* Hinweis: Mit „Schüler“ sind natürlich immer Schülerinnen und Schüler gemeint, mit „Lehrer“ Lehrerinnen und Lehrer und mit „Kollegen“ Kolleginnen und Kollegen. Ich habe jedoch bewusst darauf verzichtet, stets beide Geschlechter explizit zu nennen, um den Artikel nicht unnötig aufzublähen.