Eine der zentralen Herausforderungen des deutschen Bildungssystems besteht in den wiederholt festgestellten Leistungsunterschieden zwischen Schülerinnen und Schülern aus sozial privilegierten und sozial benachteiligten Familien. Angesichts anhaltender Bildungsungleichheiten befasst sich die empirische Unterrichtsforschung zunehmend mit der Frage, wie die Unterrichtsgestaltung die Entstehung von Leistungsunterschieden bedingt.
Mit welcher Unterrichtsgestaltung können Leistungsunterschiede nach der sozialen Herkunft abgeschwächt werden? Empfehlungen auf Grundlage der empirischen Unterrichtsforschung
Kürzlich hat ein Forschungsprojekt (Nachbauer, 2023) sowohl den hierzu bestehenden Forschungsstand aufbereitet als auch für Deutschland repräsentative Analysen auf der Grundlage des Nationalen Bildungspanels (NEPS) vorgelegt. Aus den Forschungsbefunden können konkrete Empfehlungen abgeleitet werden, wie Lehrkräfte den Unterricht gestalten sollten, um den Einfluss der sozialen Herkunft auf den Lernerfolg abzuschwächen. Im vorliegenden Bericht werden zentrale Erkenntnisse in den Bereichen Unterstützung und Feedback, leistungsheterogene Gruppen sowie schülerzentrierter Unterricht zusammenfassend dargestellt.
Unterstützung und Feedback
Ein zentrales Hindernis für ein gleichermaßen erfolgreiches Lernen aller Schülerinnen und Schüler besteht darin, dass Schülerinnen und Schüler mit niedrigem Sozialstatus häufig über ungünstigere Lernvoraussetzungen verfügen, z. B. in Bereichen wie Vorwissen, bildungssprachlichen Fähigkeiten oder Selbstregulation (Überblick bei Nachbauer, 2023). Auch deshalb haben diese Schülerinnen und Schüler im Unterricht vermehrt mit Lernproblemen zu kämpfen und sind in besonderem Maße auf Unterstützung und Feedback durch die Lehrkraft angewiesen. Um Leistungsunterschieden entgegenzuwirken, sollte die Lehrkraft Lernprobleme frühzeitig feststellen, Schülerinnen und Schülern gezielte Hilfestellungen anbieten und regelmäßig Rückmeldungen zu Vorgehensweisen und Ergebnissen geben. Auch ein emotional warmes Unterrichtsklima, in dem Schülerinnen und Schüler Lob und einen konstruktiven Umgang mit Fehlern erfahren, ist förderlich.
Die Relevanz von Unterstützung und Feedback wird durch eine Reihe von Forschungsbefunden untermauert. In der deutschen Studie, die Gegenstand dieses Berichts ist, wird ermittelt, dass eine intensive Unterstützung der Lehrkraft während des Bearbeitens von Aufgaben bewirkt, dass Leistungsunterschiede nach der sozialen Herkunft verringert werden (Nachbauer, 2023). Dieser Befund steht im Einklang mit internationalen Studien, wonach Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien in besonderem Maße von Unterstützung und Feedback profitieren (Brophy & Good, 1986; Dietrichson et al., 2017). Anzumerken ist, dass in einer weiteren Studie ein gegenteiliger Befund ermittelt wird: Ein unterstützendes Unterrichtsklima führe zur Verstärkung von Leistungsunterschieden nach der sozialen Herkunft (Atlay et al., 2019). Die Autoren vermuten, dass die Lehrkräfte in dieser Stichprobe mehr unterstützende Interaktionen mit den leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern als mit den leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern hatten. Demnach ist für die Abschwächung von Leistungsunterschieden nicht nur das Ausmaß an Unterstützung relevant, sondern insbesondere auch die Verteilung von Unterstützung.
Leistungsheterogene Gruppen
Neben der Lehrkraft stellen auch die Mitschüler eine wichtige Quelle für Unterstützung dar. Inwieweit dieses Potenzial ausgeschöpft wird, hängt wesentlich von der Art und Weise ab, wie die Schülerinnen und Schüler im Unterricht gruppiert werden. Konkret scheint beim Einsatz von Partner-/Gruppenarbeiten die Bildung von leistungsheterogenen Paaren/Gruppen empfehlenswert. Das bedeutet, dass leistungsstärkere und leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler gemeinsam an Aufgaben arbeiten. Die soziale Interaktion mit leistungsstärkeren Mitschülern ist besonders förderlich, da diese ein Vorbild für Anstrengungsbereitschaft bieten, Denkprozesse zur Lösung von Aufgaben veranschaulichen oder Hilfestellungen bei Lernproblemen geben können.
Forschungsbefunde belegen, dass diese Art des kooperativen Lernens von großem Nutzen für Schülerinnen und Schüler mit niedrigem sozialem Status ist. In der hier besprochenen deutschen Studie wird festgestellt, dass die Bildung von leistungsheterogenen Gruppen zu geringeren Leistungsunterschieden nach der sozialen Herkunft führt (Nachbauer, 2023). Auch in internationalen Studien zeigt sich, dass von leistungsheterogenen Paaren/Gruppen insbesondere benachteiligte Schülerinnen und Schüler profitieren (Lou et al., 1996; Rohrbeck et al., 2003).
Schülerzentrierter Unterricht
Wie bereits die Studie von Atlay und Kollegen (2019) gezeigt hat, kann die Unterrichtsgestaltung nicht nur zu einer Abschwächung von Leistungsunterschieden führen, sondern auch zu einer Verstärkung. Ähnliche Effekte werden auch bei einer intensiven Verwendung von schülerzentriertem Unterricht angenommen. Schülerzentrierter Unterricht ist eine Oberkategorie für verschiedene Unterrichtsmethoden, bei denen die Steuerung des Lernens maßgeblich in der Verantwortung der Schülerinnen und Schüler liegt (z. B. entdeckendes Lernen, offener Unterricht). Diese Art des Unterrichtens stellt hohe Anforderungen an die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler, denn diese müssen eigenständig ihre Lernaktivitäten planen, regulieren und bewerten. Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien können dabei leicht überfordert werden.
Mehrere Studien liefern entsprechende Belege. In einer deutschen Studie (Möller et al., 2002) werden eine rein schülerzentrierte Unterrichtsmethode und eine ausgewogene Unterrichtsmethode (mit schüler- und lehrkraftzentrierten Anteilen) miteinander verglichen. Schülerinnen und Schüler mit günstigen Lernvoraussetzungen lernen bei beiden Unterrichtsmethoden ähnlich viel. Schülerinnen und Schüler mit ungünstigen Lernvoraussetzungen lernen dagegen bei der rein schülerzentrierten Unterrichtsmethode weniger als bei der ausgewogenen Unterrichtsmethode. Vergleichbare Befunde werden auch in internationalen Studien berichtet (Andersen & Andersen, 2017; Vanlaar et al., 2014).
Fazit
Die dargestellten Forschungsbefunde zeigen, dass die Unterrichtsgestaltung einen Einfluss auf die Entstehung von Leistungsunterschieden nach der sozialen Herkunft hat. Um Leistungsunterschiede abzuschwächen, sollte die Lehrkraft
- viel Unterstützung und Feedback bieten (und hierbei insbesondere leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler fokussieren),
- leistungsheterogene Paare/Gruppen bilden,
- die Verwendung von rein schülerzentrierten Unterrichtsmethoden begrenzen und stattdessen ausgewogene Unterrichtsmethoden bevorzugen.
Abschließend ist anzumerken, dass neben der Unterrichtsgestaltung weitere Ansatzpunkte zur Reduktion von Leistungsunterschieden nach der sozialen Herkunft bestehen. Auch an Ganztagsschulen wird die Erwartung gestellt, dass sie Leistungsunterschiede verringern. Ebenso wird in Hinblick auf die Klassengröße sowie auch die soziale oder leistungsmäßige Komposition der Schulklasse angenommen, dass sie eine Rolle für die Entstehung von Leistungsunterschieden spielen. Die in diesen Bereichen vorhandenen Forschungsbefunde sind aber nicht eindeutig; sie werden bei Nachbauer (2023) ebenfalls zusammengefasst. Schließlich wird auch eine frühe Selektion der Schülerinnen und Schüler in unterschiedliche Bildungsgänge mit der Verstärkung von Leistungsunterschieden in Zusammenhang gebracht; im deutschen Kontext wurde in diesem Zusammenhang etwa auf die Bedeutung von Schulformen als „differenzielle Entwicklungsmilieus“ hingewiesen (z. B. Baumert et al., 2009). Eine aktuelle Zusammenfassung der Forschungsbefunde zu diesem Thema findet sich bei Terrin und Triventi (2023).
Der Autor
Max Nachbauer, Dipl.-Päd. und Dr. phil, ist assoziierter Wissenschaftler am Arbeitsbereich Schulpädagogik/Schulentwicklungsforschung der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Unterrichtsqualität, Unterrichtsentwicklung, Ganztagsschulen, Bildungsungleichheiten und Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Der Artikel ist erstmals erschienen in DDS – Die Deutsche Schule 115. Jahrgang 2023, Heft 3, S. 274–278. https://doi.org/10.31244/dds.2023.03.10 CC BY-NC-ND 4.0 Waxmann 2023. Dieser Artikel steht unter folgender Creative Commons-Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de
Literatur und Internetquellen
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