Ein Besuch in der Siebengebirgsschule in Bonn
„Ich hielt es für unvorstellbar, dass sich das in der Bewerbung beschriebene Konzept eines eigenverantwortlichen Lernens ohne klassischen Stundenplan und feste Raumstruktur so in die Praxis umsetzen lässt. Vor Ort kamen wir aus dem Staunen nicht mehr raus.“
Porträt | Der Deutsche Schulpreis
Der letzte Satz im Interview mit Jury-Mitglied Carola Gnadt, der in der Pressemitteilung nach der Vergabe des diesjährigen Deutschen Schulpreises zu lesen war, hat uns aufmerken lassen. Diese Schule muss etwas ganz Besonderes sein, dachten wir uns – und dann noch fast vor der Haustür! Sobald das Buchungsportal geöffnet war, wurde ein Hospitationstermin gebucht, natürlich digital, denn Digitalisierung wird an der Siebengebirgsschule ganz großgeschrieben.
Aus dem Staunen heraus kam ich dann tatsächlich nicht mehr, als ich Anfang Dezember – sozusagen als Vorhut des Kreisvorstandes Westerwald – die Schule „inspizierte“: Mein erstes Erlebnis an dieser wirklich besonderen Schule war – ehe ich mich vorstellen konnte – dass der Schulleiter einer Schülerin sein eigenes Büro zum Arbeiten zur Verfügung stellte, ganz unkompliziert und ohne vorherige Belehrungen. Empfangen wurde ich dann in der Lounge mit einem vorzüglichen Cappuccino, den eben dieser Schulleiter, der sich mir mit „Achim“ vorstellte, selbst zubereitete. Um das Mental Health in seinem Kollegium zu steigern, hat er, so erzählte er mir, selbst einen mehrstündigen Barista-Workshop besucht.
Die Grundidee in der Siebengebirgsschule ist, so habe ich es erlebt, gar nicht so sehr das Konzept. Eigenverantwortliches Arbeiten ist ja nicht grundsätzlich eine neue Erfindung. Aber die Grundhaltung der Lehrpersonen gegenüber allen in der Schule arbeitenden Personen ist eine andere, als sie Schule klassischerweise versteht. Es geht eben nicht um das (Be)lehren, das UNTERrichten und Ausüben von Macht über die Einforderung von Regeleinhaltung. Sondern um ein gemeinsames Lernen im gegenseitigen wertschätzenden Umgang.
Und was wirklich erstaunt: Es funktioniert! Und das nicht nur mit ausgesuchten Gymnasialschülerinnen und -schülern in der Mittelstufe, sondern mit den ganz normalen Lernenden einer Förderschule in allen Klassenstufen. Während des gesamten Vormittags habe ich keine Schülerin und keinen Schüler erlebt, die eine Beleidigung ausgestoßen hätte. Niemand schimpfte, keiner motzte. Nicht nur uns, sondern auch den anderen Lernenden wurden Türen aufgehalten. Und tatsächlich: ALLE (!) haben gearbeitet. In einer angenehmen, ruhigen aber dennoch lebendigen Atmosphäre. Das hat mich am meisten beeindruckt.
An Gäste sind die Schülerinnen und Schüler dort merklich gewöhnt. Wir wurden nicht mit skeptischen Blicken empfangen, sondern uns wurde angeboten, unsere iPad-Stifte gravieren zu lassen. Dafür verantwortlich zeigte sich ein Schüler der 10. Klasse, der den höchsten Graduierungsgrad erreicht hat und daher die größtmögliche Freiheit hat, sich seine Arbeitszeit frei einzuteilen. Ganz selbstständig beriet er mich in Größe und Gestaltung des Schriftzuges, bediente er den Computer und die Maschine. Seinen Wochenplan, so hat er mir erzählt, bearbeitet er oft auch freiwillig zu Hause, denn seine Freiheiten möchte er natürlich nicht verlieren. Außerdem möchte er einen guten Schulabschluss machen: Schülerinnen und Schüler der Siebengebirgsschule können die verschiedensten Schulabschlüsse erreichen; vom Abschluss des Bildungsgangs im Förderschwerpunkt Lernen über einen Hauptschulabschluss nach Klasse 9 oder 10 bis hin zu einer Fachoberschulreife mit Berechtigung zum Besuch einer gymnasialen Oberstufe.
Auch die Lehrerinnen und Lehrer dieser Schule haben neue Freiheiten: Da die Lernenden selbstständig lernen, können sie die Zeit wirklich nutzen, um die Schülerinnen und Schüler zu beraten und zu begleiten. So verändert sich der Blick auf Schule von ganz alleine. Besonders erleichternd sei die Tatsache, dass es nicht mehr die Hauptaufgabe sei, die Schülerinnen und Schüler zu reglementieren. Es gehe wieder zuvörderst um Bildungsinhalte. Und das sollte doch unser aller Ziel sein!
Mein Besuch liegt nun schon einige Monate zurück. Mittlerweile haben 17 VBE-Mitglieder und Gäste die Siebengebirgsschule in Bonn, die in diesem Jahr bereits komplett ausgebucht ist, besuchen können. Eine spontane Buchungsaktion durch die Vorsitzende des Kreisverbandes Westerwald hatte es möglich gemacht. Auch diese Besucherinnen und Besucher begeisterte mehr als „nur“ der Barista-Kaffee.
Alexandra Zierold