Rheinland-Pfälzische Schule

Positive Bildung – Grundlagen und praktische Umsetzung

1. Wohlbefinden und/oder Leistung in der Schule?

In der heutigen Gesellschaft wird Bildung oft stark auf Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten fokussiert, die für den späteren Arbeitsmarkt eine Relevanz besitzen. Wenn Eltern gefragt werden, was sie von der Schule erwarten, so steht akademische Leistung häufig ganz oben auf der Liste (Bos & Günter, 2012). Sie möchten,dass Schule ihre Kinder auf die Hochschule oder den Arbeitsmarkt gut vorbereitet. Dabei geraten die individuellen Bedürfnisse und das Wohlbefinden der Lernenden leicht in den Hintergrund. Bisweilen entsteht sogar der Eindruck, eine Ausrichtung auf Wohlbefinden stehe der Förderung akademischer Leistungen entgegen. Dieses Spannungsverhältnis verstärkt sich in den letzten zehn Jahren eklatant, da die psychischen Belastungen stark zunehmen und durch das Pandemiegeschehen eine weitere Erhöhung der Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen deutlich geworden ist (Racine et al., 2021), gleichzeitig die akademischen Leistungen insbesondere in Lesen und  Textverständnis sowie in Mathematik eine Verschlechterung erlebt haben.

2. Das Konzept der Positiven Bildung

Positive Bildung ist ein noch junger Forschungsansatz – beginnend im Jahr 2008 –, der den Fokus auf die Förderung von Wohlbefinden, Stärken und Ressourcen der Lernenden legt. Ein international maßgebliches Rahmenkonzept der Positiven Bildung entstand in einer Kooperation der australischen Geelong Grammar School mit Martin Seligman, einem wichtigen Wissenschaftler in der Positiven Psychologie. Gemeinsam mit weiteren Kolleg*innen wurde eine Arbeitsgrundlage am Wohlbefindenskonstrukt PERMA entlang entwickelt und für Schule und Unterricht nutzbar gemacht, das mittlerweile weltweit ausstrahlt (Norrish, 2015). In der praktischen Arbeit geht es darum, zunächst den Lehrpersonen und dann den Kindern und Jugendlichen bestimmte typisch menschliche Automatismen und Verzerrungen, sogenannte Biases, bewusst zu machen und aufzuzeigen, wie diesen mit kleinen, einfachen Übungen entgegengewirkt und so das Wohlbefinden gefördert werden kann. So ist es beispielsweise besonders wichtig, dass Schüler*innen unmittelbar vor Leistungstests möglichst keine Angst, sondern positive Emotionen verspüren, da diese Kreativität und Problemlösekompetenz fördern – zwei wesentliche Basisfaktoren, um herausfordernde Aufgaben bewältigen zu können. Der Positiven Bildung ist es mithilfe kleinerer und größerer Maßnahmen nachweislich gelungen, das Wohlbefinden bei Kindern und Jugendlichen signifikant zu steigern. Als „Nebenprodukt“ konnte in verschiedenen Schulleistungsstudien international aufgezeigt werden, dass dadurch Schüler*innen zudem zu erkennbar höheren Leistungen in der Lage waren (Adler, 2016). Der Fokus auf eine Steigerung von Wohl- befinden in der Schule steht somit der Förderung hoher akademischer Leistungen nicht entgegen, sondern bildet vielmehr eine wichtige Grundlage dafür. PositiveBildung wird in vier Handlungsfeldern lebendig: Sie wird von Lehrpersonen gelernt (PERMA lernen), Schüler*innen unterrichtet (PERMA lehren), in den Fachunterricht eingebunden (PERMA einbetten) und im Schulleben erfahrbar gemacht (PERMA leben).

3. PERMA

Um PERMA lernen, lehren, einbetten und leben zu können, ist es zunächst wesentlich, kennenzulernen, was sich dahinter verbirgt. PERMA steht als Akronym für fünf Säulen von Wohlbefinden nach Seligman (2011). Es fußt auf der Idee, dass es mehr als nur die Abwesenheit von Erkrankungen braucht, um ein gesundes
Leben zu führen, und beschreibt Faktoren, die zu einem erfüllten und glücklichen Leben beitragen können.Ergänzt wird es in der Positiven Bildung um eine wei-
tere Säule zu PERMA-H.

Die sechs Säulen des PERMA-H-Modells sind:

  1. Positive Emotionen: Positive Emotionen wie Freude, Liebe oder Dankbarkeit tragen ganz besonders zu Wohlbefinden bei, sie unterstützen nachweislich physische Gesundheit, psychische Stabilität, fördern soziale Kontakte und Kommunikation und ermöglichen kreatives Denken und Problemlösung.
  2. Engagement: Können Menschen in Aktivitäten und Aufgaben ihre individuellen Fähigkeiten und Stärken einsetzen, so kann dies ein positives Selbstkonzept
    unterstützen und zu Flow-Erleben beitragen, einem Gefühl besonderer Erfüllung und Zufriedenheit
  3. Relations: Die Pflege positiver Beziehungen unterstützt psychisches Wohlbefinden, da sie ein Gefühl von Zugehörigkeit und Verbundenheit schafft, das menschliche Grundbedürfnis nach Miteinander erfüllt. Grundlage der Beziehung zu anderen ist eine gute Beziehung zu sich selbst, die von Selbstfürsorge und positiver Selbstführung geprägt ist.
  4. Meaning: Gewinnen Menschen den Eindruck, ihr Tun hat Sinn, ihre Handlungen sind bedeutsam, so stärkt dies Lebenszufriedenheit und fördert Motivation und Engagement.
  5. Accomplishment: Setzen Menschen sich Ziele, so können sie etwas erreichen und Erfolge feiern. Dies erzeugt ein Gefühl von Stolz und stärkt die Selbstwirksamkeit
  6. Health: Körperliche Gesundheit durch einen gesunden Lebensstil, basierend auf körperlicher Aktivität und Bewegung sowie auf einer ausgewogenen Ernährung, kann dazu beitragen, Stress zu reduzieren, das Selbstwertgefühl zu steigern und die Stimmung zu verbessern.

Die Positive Bildung richtet sich darauf aus, Wohlbefinden über diese sechs Säulen bei allen Akteuren im System Schule zu stärken. Daher bietet das Konzept
sowohl Lern- und Übungsangebote für Schulleitungen, Lehrpersonen und alle Mitarbeitenden als auch für Schüler*innen und Eltern (Lichtinger, 2023).

4. Die praktische Umsetzung

Schulleitungen und engagierte Lehrpersonen, die Positive Bildung an ihrer Schule auf den Weg bringen möchten, stehen vor zwei Herausforderungen:

  1. Wie können sie diese an ihrem Standort implementieren?
  2. Mit welchen Themen der Positiven Bildung sollten sie beginnen?

Eine für den deutschsprachigen Raum entwickelte Implementierungs- und Themenmatrix versucht, genau diese beiden Fragen zu beantworten bzw. eine Hilfestellung zu geben. Bevor anschließend näher auf die beiden Instrumente eingegangen wird, ein paar Grundgedanken zum Implementierungsprozess selbst:

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie ein Thema, in diesem Fall die Positive Bildung (PB), an die Schule kommt. Es kann von einer Initiative einer Einzelperson, eines Teams oder von der Schulleitung selbst ausgehen. Eine anschließende Pilotphase unterstützt die Schule, erste Erfahrungen und mögliche Stolpersteine „im Kleinen“ zu sammeln. Die folgenden Aspekte können sich positiv auf den Erfolg einer Implementierung auswirken:

  1. Tandems oder Team: Wenn möglich, sollte von Beginn an (bereits bei der Fort- und Weiterbildung) auf Tandems oder ein Team gesetzt werden. Sowohl aus
    Gründen des fachlichen Austausches (Sparringspartner*in), der Wissenssicherung (falls ein/-e Kolleg*in die Schule verlässt) als auch zur Stärkung des nachfolgenden Implementierungsprozesses. Optimalerweise nimmt die Leitung bereits an der ersten Fortbildungsreihe teil und entwickelt so Ownership für das Themenfeld.
  2. Die Transparenz des Prozesses: Kolleg*innen, vor allem jene, die vielleicht zu Beginn noch nicht direkt im PB-Prozess involviert sind, sollten nicht das Gefühl haben, dass „hinter verschlossenen Türen“ wichtige Dinge beschlossen werden. Offene Kommunikation und transparente Entscheidungsprozesse spiegeln auch die Haltung von Positiver Bildung wider.
  3. Die Haltung im Prozess: Der gesamte Implementierungs- sowie auch der spätere Schulentwicklungsprozess sollten immer in der Haltung der Positiven Bildung bzw. Positiven Psychologie gestaltet werden. Denn es ist unglaubwürdig, wenn man dieses Konzept einführen möchte und das in einer Art und Weise macht, die dieser Haltung widerspricht. Vor allem die Schulleitung als Vorbild/Role Model spielt dabei eine zentrale Rolle. Positive Bildung endet nicht an der Klassenzimmertür – sie ist dann nachhaltig, wenn sie in der ganzen Schule und von möglichst vielen Beteiligten gelebt und praktiziert wird.

5. Die Implementierungs- und Themenmatrix zur Positiven Bildung

Die Implementierungsmatrix besteht aus zwei Bereichen: Organisation und Kompetenzaufbau. Sie versucht, Schulen – sowohl auf der Organisationsebene,
z. B. „Was sollte das Leitungsteam von Beginn an bzgl. Schulentwicklungsprozess und Kooperation/Wissensmangement beachten?“ – als auch auf der Ebene des
Kompetenzaufbaues, z. B. „Mit welcher Säule von PERMAH sollte eine Schule beginnen?“ – eine Hilfestellung zu geben.

Wenn nun im Bereich Kompetenzaufbau vorgeschlagen wird, dass sich z. B. Schüler*innen differenziert mit der PERMAH-Säule „Positive Emotionen“ auseinandersetzen sollten – was bedeutet das? Welche Inhalte und/oder Übungen könnte/sollte eine Schule dazu machen? Dabei hilft nun die Themenmatrix. Sie gibt den Schulen einen Leitfaden, welche Themen und welche Übungen – mit welcher Zielgruppe – zu jeder PERMAH-Säule besprochen bzw. gemacht werden können.

Beim Kompetenzaufbau wird geraten, mit den PERMA-Säulen Positive Emotionen, Gesundheit und Relationship zu beginnen (Seligman et al., 2009; Waters, 2011). Die Begründung dafür liegt in der Forschung. Wie eingangs erwähnt steht es um die psychische und physische Gesundheit der Kinder, aber auch der Lehrpersonen (Krankenstände, Burn-out) schlecht. Bewegung und die Fähigkeit, aktiv seine Emotionen zu beeinflussen, können dabei einen wesentlichen und vor allem raschen Beitrag zur Verbesserung beitragen (Soshani & Steimetz, 2014). Darüber hinaus sind im Kontext von Relations sowohl Selbstfürsorge als auch die Fähigkeit, gesunde/stärkende Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, von hoher Bedeutung (Dutton & Raggins, 2018).

6. Fazit

Positive Bildung ist ein sich seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum entwickelndes Feld. Insbesondere durch das Pandemiegeschehen zeigen sich
wachsender Bedarf und wachsendes Interesse an diesem Ansatz. Dem versuchen die beschriebenen Entwicklungen Rechnung zu tragen, Schulen Unterstützung in der Etablierung von Positiver Bildung zu bieten. Sowohl die Implementierungs- als auch die Themenmatrix haben allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie verstehen sich explorativ – als ein sich laufend veränderndes Instrument, welches sich mit jedem Praxiseinsatz weiterentwickeln kann. Daher wird es auch regelmäßig evaluiert und überarbeitet. Sie sollen der Schulleitung und den Lehrpersonen sowohl die Möglichkeit der Fokussierung als auch der Adaption an die eigenen Bedürfnisse/Anforderungen ermöglichen, sodass alle im System der Einzelschule bestmöglich aufblühen können.

Literatur

  • Brohm, M., & Endres, W. (2017). Positive Psychologie in der Schule: Die Glücksrevolution im Schulalltag (2. erweiterte Auflage). Beltz J.
  • Burow, O. A. (2011). Positive Pädagogik. Sieben Wege zu Lernfreude und Schulglück. Beltz J.
  • Lichtinger, U. (2023). Positive Bildung: Wohlbefinden UND Leistung in der Schule. Springer Wiesbaden.
  • Lichtinger, U. (2022). Positive Schulentwicklung: Positive Psychologie in der Schulentwicklung für die Beratung und Prozessbegleitung. Springer.
  • Lichtinger, U., & Rigger, U. (2022). Schule wird gelingen mit Flourishing SE: Das Praxisbuch der Positiven Schulentwicklung. Link

Autor*innenhinweise:

  • Prof. Dr. Ulrike Lichtinger, Professorin für Sozialwissenschaften an der Internationalen Hochschule (IU), Standort Regensburg, Expertin für Positive Bildung, Keynote-Speakerin zu Positiver Bildung in Forschung und Praxis, Leiterin verschiedener Forschungsprojekte zu Positiver Bildung, Research und Practice Lead der Internationalen Positiv-Psychologischen Vereinigung IPPA, Abteilung Bildung, E-Mail: ulrike.lichtinger@iu.org
  • Mag. Bianka Hellbert, Institut für Schulentwicklung an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, Begleitung von PB-Implementierungsprozessen an Schulen, Anwendung von PB im Unterricht: PERMA-teach-Trainerin (www.permateach.at)

Literaturangaben zu den Zitationen:

  • Bos, W., & Günther, H. (2012). Erwartungen von Eltern an Schulen: Eine Analyse ausgewählter Befunde aus dem Nationalen Bildungspanel (NEPS [Expectations of parents towards schools: An analysis of selected findings from the National Educational Panel Study (NEPS)]. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 15(3), 529–547.
  • Dutton, J. E., & Ragins, B. R. (2018). Positive relationships at work: An introduction and invitation. In J. E. Dutton & B. R. Ragins (Eds.), Exploring positive relationships at work: Building a theoretical and research foundation (pp. 3–18). Routledge.
  • Lichtinger, U. (2023). Positive Bildung: Wohlbefinden UND Leistung in der Schule. Springer Wiesbaden.
  • Norrish, J. (2015). Positive education: The Geelong Grammar School journey. Oxford positive psychology series. Oxford University Press.
  • Racine, N., McArthur, B. A., Cooke, J. E., Eirich, R., Zhu, J., & Madigan, S. (2021). Global prevalence of depressive and anxiety symptoms in children and adolescents during COVID-19: a meta-analysis. JAMA pediatrics, 175(11), 1142–1150.
  • Seligman, M. E. P., Ernst, R. M., Gillham, J., Reivich, K., & Linkins, M. (2009). Positive education: Creating flourishing students, staff and schools. Psychology Today, 42(2), 64–71.
  • Shoshani, A., & Steinmetz, S. (2014). Positive psychology at school: A school-based intervention to promote adole- scents’ mental health and well-being. Journal of Happiness Studies, 15(6), 1289–1311