Rheinland-Pfälzische Schule

Schulkrise und Schulreformen – Einige Anmerkungen zur etablierten Reformpolitik

Lehrkräfte, Schulleitungen, Eltern und sonstige Bildungsinteressierte klagen seit Langem aus guten Gründen darüber, dass die Lehr-, Lern- und Arbeitsbedingungen in den Schulen völlig unzureichend seien und die Schulpolitik dringend nachhaltige Veränderungen und Verbesserungen bewirken müsse. Doch die schulpolitischen Antworten auf die chronische Bildungskrise sind bislang alles andere als überzeugend und ermutigend.

Lähmender „Glühwürmchen-Effekt“

Was rückblickend als besonderes Manko der tradierten Reformpolitik ins Auge fällt, ist die Tatsache, dass es den meisten Reformen vor allem an einem fehlt: Alltagstauglichkeit. Meist wurde den Lehrkräften auf der Metaebene eine Menge Aufwand zugemutet und das Entwickeln idealtypischer Schulprogramme, Schulprofile, Arbeitspläne, Evaluationsverfahren etc. abverlangt. Doch um die reale Machbarkeit und Nützlichkeit war es meist schlecht bestellt. Das monieren sowohl viele Lehrkräfte und Schulleitungen als auch die indirekt betroffenen Eltern und deren Kinder. Kein Wunder also, dass viele Reformansätze eher „Glühwürmchen“ geblieben und ohne größeren Nutzen für die Betroffenen verpufft sind (vgl. das angeführte Buch).

Das ist deshalb schade, weil unser Schulwesen ganz unstrittig reform- und verbesserungsbedürftig ist. Doch trotz dieser objektiven Notwendigkeit kommt die viel beschworene Modernisierung und Effektivierung des schulischen Lehrens und Lernens seit Jahrzehnten kaum voran. Derzeit fehlen nicht nur Zigtausende Lehr- und Förderkräfte, um die bestehenden Differenzierungs- und Förderbedarfe angemessen abdecken zu können. Es fehlt auch an vielem anderen. Sichtbare Zeichen dieser bildungspolitischen Lähmung sind u. a. gravierende Lese-, Schreib- und Rechenschwächen bei Viertklässlern, ernüchternde PISA-Ergebnisse, marode Schulgebäude, Schulhöfe und Sportstätten, miserable digitale Ausstattungen an vielen Schulen, lähmende Lehrerbelastungen, dürftige Inklusionsfortschritte, anachronistische Arbeitsbedingungen für Lehrer:innen und Schulleiter:innen, kleinkarierter Bildungsföderalismus, Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Milieus und vieles andere mehr.

Fragwürdige Prioritätensetzungen

Entgegen dieser „Mängelliste“ betonen Bildungspolitiker:innen seit Jahr und Tag bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie wichtig eine exzellente Bildungsarbeit für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes sei. Das stimmt sogar! Doch während für andere Verwendungszwecke (Aufrüstung, Bankenrettung, Corona, Energieversorgung etc.) in jüngster Zeit im Handumdrehen Hunderte von Milliarden Euro lockergemacht wurden, darbt der Bildungsbereich in erschreckender Weise vor sich hin. Das belegt u. a. das 2022er Kommunalpanel der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), dem zufolge der „Investitionsstau“ im Schulbereich bei derzeit 45,6 Milliarden Euro liegt. Besserung ist kaum in Sicht. Das heißt: Notwendige Modernisierungsinvestitionen unterbleiben, werden abgespeckt oder auf die lange Bank geschoben. Dieses Implementierungsproblem durchzieht die Reformpolitik von Bund und Ländern seit vielen Jahrzehnten. Die Folge sind die oben angedeuteten Schwachpunkte der faktischen Modernisierungsarbeit in Schule, Unterricht, Lehrkräftebildung und den übergeordneten Schulverwaltungen.

Alarmierende Reformversäumnisse

Dieses tendenzielle Reformversagen ist deshalb so alarmierend, weil Deutschland als führende „Hightechnation“ hochgradig darauf angewiesen ist, dass das Schulwesen modernen Standards genügt. Das gilt sowohl für die Mobilisierung der vorhandenen Begabungsreserven als auch für das Erreichen zukunftssichernder Schulabschlüsse und Schülerkompetenzen. Stichworte wie Autonomieförderung, Chancengerechtigkeit, Inklusion, Kompetenzorientierung, Teamentwicklung und Digitalisierung zeigen an, in welche Richtung die fällige Modernisierung gehen sollte und gehen muss. Doch die staatliche Reformpolitik tut sich mit diesem Modernisierungsschwenk erkennbar schwer. Vieles bleibt halbherzig, sprunghaft, abgehoben, unverbindlich und übermäßig aufwendig und kurzatmig. Kaum wurde eine Schulreform gestartet, wird auch schon die nächste ins Schaufenster gestellt (Schaufenster-Syndrom).

Die Folge dieser Sprunghaftigkeit sind nur zu oft irritierte, frustrierte, überforderte oder in anderer Weise desillusionierte Lehrkräfte und Schulleitungen, deren Reformelan sich unter den skizzierten Vorzeichen verständlicherweise in engen Grenzen hält. Das gilt für die Umsetzung der diversen Curriculum-Reformen seit Ende der 1960er-Jahre genauso wie für die Implementierung neuer Lehr- und Lernmethoden, die Forcierung des digitalen Lernens, den Auf- und Ausbau integrativer bzw. inklusiver Schulen, die Umsetzung der neuen Bildungspläne und Bildungsstandards, den Umgang mit heterogenen Lerngruppen und schwierigen Schülerinnen und Schülern, die Überwindung des Frontalunterrichts, das Engagement für mehr Schulautonomie, Entbürokratisierung, Lehrerkooperation und selbstverantwortliche Schulgestaltung.

Warum Symbolpolitik nicht reicht

Diese und andere Reformansätze haben leider nur selten jenes Stadium erreicht, in dem die betroffenen Reformakteure in den Schulen die angesagten Neuerungen so beherrschen, dass tragfähige alltagstaugliche Handlungs-, Kooperations-, Planungs- und Entscheidungsroutinen entstehen, die eine verlässliche Reformimplementierung gewährleisten. Um den Aufbau dieser operativen Routinen hat sich die Reformpolitik in der Vergangenheit viel zu wenig gekümmert. Stattdessen richtete sie ihr Hauptaugenmerk darauf, durch das Ankündigen immer neuer Reformvorhaben die eigene politische Wachheit und Tatkraft zu demonstrieren. Ob die angekündigten Reformvorhaben auch tatsächlich umgesetzt wurden, war eine ganz andere Frage. Diese sprunghafte, sporadische und kurzatmige Symbolpolitik ist nicht nur unverbindlich und wenig nachhaltig. Sie ist für die betroffenen Schulakteure in aller Regel auch relativ unbefriedigend, belastend und unter dem Strich eher abschreckend.

Kluges Reformmanagement tut not

Die Reformpolitik von Bund und Ländern tut grundsätzlich gut daran, den Schulen mehr Geld, Personal und Sachmittel bereitzustellen. Doch nicht nur das. Mindestens genauso wichtig ist es, das reformspezifische Innovationsmanagement auf Schul- und Schulverwaltungsebene gründlich zu professionalisieren und alltagstauglich zu operationalisieren. Dazu gehören sowohl das Elementarisieren der nötigen Qualifizierungs- und Innovationsschritte als auch das Sicherstellen ermutigender Ressourcen und Unterstützungsleistungen von oben und außen. Dieser inspirierende Innovationsservice ist bislang sehr unterentwickelt.

Erforderlich ist zudem eine klare Priorisierung bestimmter Reformvorhaben für mindestens vier Jahre, damit sich die betroffenen Reformakteure nicht über Gebühr verzetteln.

Diese Konsolidierungsnotwendigkeit müssen alle im Blick haben: Schulleitungen wie Lehrerkollegien, Schulaufsichtsbehörden wie Lehrerbildungseinrichtungen, Schulträger wie Schulpolitiker:innen. Brauchen doch wirksame Schulreformen vor allem eines: ein möglichst stringentes, praxisnahes, langfristig angelegtes und Mut machendes Innovationsmanagement mit profilierten Netzplänen, konzertierter Lehrkräfte- und Schulleitungsfortbildung, hoher Verbindlichkeit und differenzierten Unterstützungsangeboten und Serviceleistungen der staatlichen Instanzen. Andernfalls wird nachhaltige Schulentwicklung noch lange ein uneingelöstes Versprechen bleiben.

Ein Gastbeitrag von Dr. Heinz Klippert für den VBE

Literaturhinweis

Klippert, H.: Die gelähmte Bildungsrepublik. Plädoyer für eine veränderte Reformpolitik, 272 Seiten. Beltz-Verlag. Weinheim und Basel 2023.